Die deutsche Lyrik und der Tod. In diesem Gedicht von Goethe soll er eine grosse Rolle spielen:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest Du auch.
Man kann es garnicht vortragen, ohne an das Ende zu denken, an ein Eingehen in die Natur und ins Kosmische. So will es die Rezeption von alters her. So gehts mir ja auch. Das einem in jungen Jahren als verehrungswürdig Vorgestellte (und als solches Akzeptierte) kann über die Zeitläufte hindurch seinen Zauber behalten, ohne dass eine Erkenntnis ihn behelligt oder eine kritische Analyse ihn ersäuft. Aber was sag ich in jungen Jahren, grösser als die Erkenntnis erscheint uns allemal das Erlebnis, und sei es durch Kunst, und sei es im fortgeschrittenen Alter.
Hier aber sticht mich der Hafer. Greift mir nämlich dieses „Warte nur! Balde“ nicht etwas unvermittelt ins Geschehen ein, etwas übergangslos, nicht ein bisschen zu - balde?
Und mit dem Tod, finde ich, soll mans nicht übertreiben hier. Es ist der Friede in der Natur, die Ruhe, ihre grosse Harmonie.
Wenn mit „ruhest du“ die ewige Ruhe, der ewige Friede gemeint wäre, ein „ruhe in Frieden“ - wer denn auch und sonst noch ginge da ein, ist doch die Stille überaus belebt, eine Atmosphäre in allem Schweigen, ein sehr lebendiges Atmen und Einschlafen und Hinträumen, weder Gipfel noch Wipfel noch gar die Vögelein sind hier dem Tode nah. Dann wird ja „Ruhest du auch“ nichts anderes als blosses Schlafengehen heissen können. Sonst stünde dieses „auch“ verloren da und ohne jede Verbindung und das Gedicht wäre mit seinem letzten Wort verpfuscht.
Und falls dem so wäre und garkein Tod und Goethe nicht mit dem letzten Pinselstrich noch ausgerutscht - kann denn ohne den Tod, das dräuende oder für einmal auch tröstliche Ende von allem, ein deutsches Gedicht noch ein grosses sein?
Gemach. Es gibt ein Vorgedicht dazu. Niemand erwähnt es zwar, der es je in öffentlicher Runde zitiert, ob Baring, Fehr oder Sarrazin. Wahrscheinlich, weils keiner weiss und keiner kann. Stolpern doch alle Genannten schon im bekannteren zweiten entweder übers einfache Vögelein und bürsten gegen den Strich ein Vöglein zurecht oder sagen auf: Warte nur, balde / Da ruhest du auch. Und sagen überhaupt Wanderers statt Wandrers Nachtlied. Und schriebens, wenn sies wüssten, wohl sogar mit Apostroph.
Wandrers Nachtlied, heisst es nämlich auch, das erste, indes das zweite, eben vorgetragene, bei Goethe mit „Ein gleiches“ überschrieben ist und darunter steht. Wenn man jetzt beide aufeinander liest, fügt sich dies „Warte nur! Balde“ nicht viel natürlicher und fügt sich die Sache mit dem Tod dann nicht ganz anders und wie leichthin noch ein?:
Wandrers Nachtlied
Der du von dem Himmel bist, Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest; Ach, ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede, Komm, ach komm in meine Brust!
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest Du auch.
Meine Antwort lautet: Ja, jetzt fügt sich alles. Das Hinträumen kann auch ein Wegträumen werden. Jetzt ist Wandrers Nachtlied wirklich ein grosses Gedicht.
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