Das Leben sei eine Aneinanderreihung von Höhen und Tiefen, sagte mir ein vor einiger Zeit verstorbener Freund. Wie recht er damit hatte, konnte ich neulich eines nachmittags erfahren. Ich arbeitete zuhause, angelte mich von einem Kaffee zum nächsten und überarbeitete die Kundenliste der Firma, für die ich aktuell im Dienst stehe. Eine solche Liste eignet sich hervorragend fürs Homeoffice, da sich die Zeit unmerklich dem Raster der Tabelle entlang strukturiert, man läuft also nicht Gefahr, ins Abseits zu driften: Geschäftsname, Branche, Adresse kontrollieren und gegebenenfalls aktualisieren. Kontaktperson überprüfen, wenn nötig eine neue suchen und bestimmen, vielleicht telefonisch nachfragen. Stand der Kundenbeziehung prüfen, recherchieren, in Erfahrung bringen, ob es vielleicht etwas Neues gibt. Als Schlusspunkt das Datum der eben durchgeführten Aktualisierung setzen. Dann Kaffee und dazu eine kleine Freude ob der gründlich verrichteten Arbeit. Weiter so! Der Umsatz der Firma wird in die Höhe schellen! Pause fertig. Weiter gehts. Nächste Zeile.
Nach ein paar Stunden wurde ich der Liste müde, liess von ihr ab, schaltete den Computer aus und was mich erwartete, was ich all die Stunden, während ich in die Strukturen der Halt gebenden Liste vertieft war, was ich also die ganze Zeit nicht bemerkt hatte, war die dicke Luft, die bleierne Langeweile, die stumpfe Stille, die sich in meinem Homeoffice breitgemacht hatte. Ein Lebensgefühl mit verkürztem Radius zwischen Kaffeemaschine und Computer, eine innere Trägheit, die jeder wohligen Müdigkeit, jeder sprudelnden Lebenslust entbehrt. Dabei ein ätzendes Gefühl, auf das eigene Selbst mit seinen immer gleichen Dämonen und Spinnereien zurückgeworfen zu sein, aber gleichzeitig nicht in der Lage, die leere Bühne zu bespielen, den Hohlraum zu füllen, einen Funken zu zünden oder einen Impuls zu setzen. Einfach ein miefiges, farbloses, vor sich hindümpelndes Nichts also, das nach aussen wirkt und weswegen die Katze, die auf dem Fenstersims sass und den Garten überwachte, fauchend, vor Schreck die spitzen Ohren flach nach hinten gelegt, in einem hohen Bogen davon sprang, als sie mich sah. Ich hätte ins Bett liegen können, die Decke über den Kopf ziehen, dabei vergessen müssen, dass ich eigentlich keineswegs müde war. Ich war doch viel zu träge, um müde zu sein.
Plötzlich gab es doch so etwas wie einen Impuls, einen Anstoss oder ein Gefühl, das mich leitete, irgendetwas regte sich in mir, von dem ich nicht wusste, was es war. Und in dem Moment gab es kein Entrinnen und obwohl die Aktion sinnlos schien, war es dennoch klar, dass es richtig war, dass ich so handeln musste, dass es nur diesen Weg zu beschreiten gab. Ich zog – immer noch in bleierner Trägheit – Schuhe und Jacke an, widerstand dem Versuch, mich nochmals hinzusetzen und einen Kaffee zu trinken, wobei mir dieser Gegenimpuls ein Stechen im oberen Brustkorb verpasste. Je länger ich aber die Aktion, die darin bestand, dass ich die Türe öffnete, hinter mir schloss und zügig vom Quartier weg und hinaus zum nahegelegenen Aufstieg schritt, der auch die Stadtgrenze war, je länger ich also diesem vom Himmel herabgefallenen Impuls folgte, desto stärker wurde der Sog, zog mich hinauf, dorthin, wo alte Villen unter Sommerlinden ruhten, Sonnenlicht zwischen Holz und Blättern aufblitzte, wieder erlosch und man sich einer grünen, hell leuchtenden Decke nähert, bei deren Anblick ein Kind sich fragt, was wohl passiert, wenn man immer weiter in dieses endlose Grün fliege.
Die Atemzüge wurden länger, Lungenkapillaren, von denen ich längst vergessen hatte, dass es sie gab, füllten sich mit Luft, die Strukturen der Liste lösten sich aus dem Frontallapen der Grosshirnrinde, machten dem Platz, was man einen Gedanken nennen könnte. Der Sichtwinkel, der sich während der Stunden im Homeoffice auf die beiden seitlichen Enden der Exeltabelle beschränkt hatte, wurde breiter, Farben, diffuse Strukturen aus Sonnenzittern und Schattenruhe, die sich abwechselten, den Blick streiften.
Am oberen Ende des Aufstiegs durchschritt ich die letzte Baumreihe des stadtnahen Wäldchens und vor mir taten sich die nach Westen hin gelegenen Felder auf. Der Horizont, dessen Weite und Tiefe die ganze Welt und alles, was ich Lebenswertes an ihr vergessen hatte umschloss und es mir wie auf einem Serviertablett zur Schau stellte, es mir gewissermassen um die Ohren haute, so, dass ich mich für meine triefende Trägheit von vorhin fast schämte, dieser Horizont zog mich weiter an und ich spazierte hinaus übers Feld auf ihn zu. In Sichtweite eine Quellwolke, wie eine fliegende Zuckerwatte, getaucht in Abendlicht. Auf deren flauschigen Zipfeln an den seitlichen Enden waren die Tage geschrieben, die ich auch vergessen hatte und zu denen ich jetzt weisse, dünne Fäden spannte.
Insgeheim wusste ich, wohin der Weg mich führen würde, nämlich zu einem Dorf, wo auch ich einst gewohnt hatte. Neben diesem Dorf gab es einen Friedhof. Und auf diesem Friedhof lag und liegt noch immer der verstorbene Freund, der mir vom Leben, seinen Tiefen und Untiefen erzählt hatte. Der Alte wollte mir doch aus dem Grab hinaus beweisen, dass er recht hat. Und ja – ich hatte mich innert einer Stunde von einem Scheintoten im Homeoffice zu einem Quicklebendigen auf dem Friedhof gewandelt.
Als ich gegen Abend nach Hause kam, sass die Katze wieder auf dem Fenstersims. Sie musste meinen Wandel bemerkt haben, denn als ich mich auf die Bank im Garten setzte und ein Bier aufmachte, sprang sie mir auf den Schoss und lecke sich die Pfoten.
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