Er hat sich zu Tode gefressen. Dies geschah nicht etwa als Folge einer Fresssucht, sondern schlicht aus seinem Unvermögen heraus, Nein zu sagen. Unzähligen Männern gab er sich als Freund, schenkte ihnen seine Zeit, obwohl er jeden Tag mehrere zu bedienen hatte und seine Tage sich in eine Aneinanderreihung von Treffen ohne Verschnaufpause verwandelten. Gerade der Umstand, dass er eigentlich keine Zeit hatte, sich aber trotzdem für diesen und jenen Freund ein Stündchen stahl, ja dies auch so sagte, gerade diese Tatsache gab dem Einzelnen, der das Glück hatte, von ihm besucht zu werden, das Gefühl, in seiner Gunst besonders weit oben zu stehen, besonders wichtig oder exklusiv zu sein. Und um ihm das zu verdanken, wurde er jeweils bekocht oder wenigstens mit Süssigkeiten beschenkt und weil er keinen der Freunde kränken wollte und sich zudem ausrechnete, dass es bei einer Ablehnung zu Einbussen finanzieller Natur kommen konnte – denn manche Männer waren gleichzeitig Kunden von ihm – frass er sich gegen den Widerstand des eigenen Körpers durch den Tag.
Besonders schlimm waren die einsamen Seelen: Sie zogen die Essen über mehrere Gänge hin und zwischen den einzelnen Speisen mussten notgedrungen zeitliche Abstände entstehen, weil das Zeug jeweils ganz frisch zu sein hatte. Und gab er jenen den kleinen Finger, rissen sie seine ganze Hand an sich, fragten ihn aus, wann er wo sei und wenn er sich in solchen Augenblicken verplapperte, eine zeitliche Lücke preisgab, stürzten sie sich wie die Geier auf den letzten mickrigen Rest verbliebener Zeit, das ihm blieb.
Irgendwann, als er diesem Treiben schon viel zu lange tatenlos zugeschaut hatte, der Zug in die Freiheit, in die körperliche und seelische Unabhängigkeit bereits über alle Lande verschwunden war, stellte er fest, dass sogar ein Wettbewerb zwischen den Freunden entstanden war, wobei es darum ging, welcher von ihnen mehr Zeit mit ihm verbrachte, ihn am reichlichsten oder aufwändigsten bekochte. Das Treiben, das einem Missbrauch seines Körpers und seiner Seele glich, war ihm schon längst entglitten, er befand sich im Auge eines Wirbelsturms, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Um ihn herum war ein Lärm, ein Theater, ein Gedränge, ein Vorbringen von Befindlichkeiten entstanden und er war nicht mehr imstande, den Aufruhr um seine Person zu beenden.
Da seine Niere einen Defekt hatte und er deshalb kein Fett ansetzen konnte, blieb er die ganze Zeit über spindeldürr, nahm kein Gramm zu, was natürlich bei den Freunden die wohlwollende Absicht verstärkte, ihn füttern zu müssen. Dabei – und er spürte die Revolte seiner Organe des Nachts – war sein Bauchfell bereits von Übersäuerung durch fette Speisen zerfressen, die Zelldegeneration in Magen, Darm und Speiseröhre bereits fortgeschritten. Doch weil er den eisernen Willen besass, eigenes Leiden zum Wohle anderer zurückzustecken und darüber hinaus nicht besonders schmerzempfindlich, zwar grazil und schlank, aber eben ein zäher Kerl war, merkte er nicht, dass der Tod ihn schon längst auf dem Radar, ja sogar auf dem Weg war, um ihn zu sich zu holen.
Es war das Nachtessen mit der Mutter, welches ihm die Kante gab. Sie hatte gerade eine schwere Zeit, eine ihr nahestehende Freundin war verstorben, weshalb sie die Nähe zu ihren Kindern suchte. Nein zu sagen schien ihm unmöglich, ja kam ihm gar nicht erst in den Sinn. Und er nahm sich die Zeit, sich von ihr bekochen zu lassen, obwohl er zuvor bereits zwei reichliche Mahlzeiten zu sich nehmen musste. Er sah in Mutters Augen, wie wichtig ihr die Fütterung des Sohnes war und dass er auch alles, was sie ihm servierte, aufzuessen hatte. Jeden Bissen stopfte er in sich – ein Essen, das einer Gewalttat glich. Plötzlich verzerrte sich die Umgebung und er spürte, wie der Geist seinen Körper aufgab. Er knallte mit dem Kopf auf den Tisch und war sofort tot. Herzversagen wurde festgestellt. Niemand kam auf die Idee, dass er zu Tode gefüttert worden war.
コメント