Nichts prägt den zivilisierten Menschen so sehr wie die Disziplin. Sie ist das Zucht- und Unterwerfungsverfahren, das engmaschige Netz der Macht schlechthin, das ihn von Kindsbeinen auf an Regeln und Kontrolle fesselt, an Prüfung und Selektion gewöhnt, zu einem Nutztier dressiert, ihm ein Normverhalten, ein Normdenken und Normempfinden aufzwingt, ihn sich selbst entfremdet und, ganz antierotisches Prinzip, vom andern isoliert.
Die eingewurzelte Angst vor Strafe, vor Entzug und Sanktion, und die Aussichtslosigkeit des Widerstands, lässt jeden Hund und jedes Kind, jeden Soldaten und jeden Arbeiter wie selbstverständlich gehorchen. Die ständig präsente Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, des guten Rufs und der bürgerlichen Rechte, mit Ächtung und Kaltstellung jeder Art, mehr noch verinnerlicht und anonymisiert als von Gesetzesparagraphen nachdrücklich kundgetan, kettet einen jeden aufs engste an den Drill des Benimms und des Wohlverhaltens. Die Möglichkeit individuellen Aufstiegs, eigentlicher Antrieb zum Griff nach Berufs- und Bildungschancen, die Gelegenheiten und Verlockungen, andere Konkurrenten auszustechen, sind weitere Gründe, sich scheinbar freiwillig den beschriebenen Prinzipien auszuliefern und sie durch alle Böden hindurch gegen freiheitliche Ideen und Bestrebungen zu verteidigen.
Nur sehr selten kommt es, Feuerwehralarm in jeder Demokratie, zu Solidarisierung und Revolte, die ebenso schnell verlöscht, wie sie zustandegekommen.
Und lächeln muss er ausserdem dazu, singt Kreisler über den Menschen, der alles schlucken kann. Und er muss stolztun und Freiheit nicken, zufriedensein und Wohlstand beten, muss Fortschritt planen und Tatkraft zeigen und die aufgeschnappten Werte herzählen mit ernster Stirn, die hat er alle auswendig gelernt und hat doch keinen Schimmer davon. Einen beträchtlichen Teil des Repertoires steuern die Massenmedien bei. Sie präsentieren ihm rund um die Uhr die Idole, die Begehrten und Arrivierten, die Hoffnungs- und Leistungsträger der Gesellschaft, die Kämpfer und Sieger, nach denen er sich zu richten und die er zu bewundern hat. In lüsterner und weitschweifiger Berichterstattung wird ihm aber auch das Üble vor Augen geführt, das Böse und Bedrohliche, das Hinterhältige und Verdorbene, das hinter jeder Ecke lauert, damit er weiss, wo sein rechter Platz ist - rechtschaffen am Tropf seiner heimlichen Begierden zu hängen. Er konsumiert diese Informationen, die ihm als sein Recht aufgeschwatzt werden, als etwas Wichtiges und Objektives, mit der Miene des aufgeklärten Bürgers. Er konsumiert und liest im Alltag auswärts und zuhause, er liest und konsumiert in der Freizeit und im Urlaub, er informiert sich gratis und pendelt, er informiert und unterhält sich alleine und mit andern zusammen und glotzt sich, durchzuckt vom Herdenstrom des Infotreatments, wo er kann eine Gloriole ins stumpfe Hirn. Er ist der windelweiche Claqueur der herrschenden Zustände.
Der dressierte Mensch und seine Musik, seine Literatur, seine Sprache. Ersatz und Versatz seiner suggestiblen Affekte, wohlabgestimmt und für jede Geschmacksanwandlung gerade so dosiert, als wäre er von selbst auf das Verlangen gekommen; melodramatische Romänchen und schlaumeierisch konzipierte Stories, die ihm das eigene Denken ersparen und doch zielgenau auf den Punkt bringen, er hätte es selber nicht besser gekonnt; Reproduktion und Wiedergabe vorgestanzten und zerebral verletterten Textsammelsuriums, Dreschflegelei an der Gedanken- und Sinneseinheit des Satzes, Zerfetzung und Liquidation der Sprache, als deren Nachahmer und Vollstrecker in einem er sich erweist. Es lässt sich nicht einmal sagen, dass er seine Kultur nicht kenne, seine Geschichte, seine Religion. Nichts davon ist das Seine, er hat sich nie darum geschert. Aber er zeigt die erwünschte Reaktion, wenn es gilt, Farbe zu bekennen. Christ! ruft er plötzlich und entschieden, Volk, schreit er inbrünstig, Minderheiten! bekräftigt er und wirft sich mal gönnerhaft, mal hetzerisch in Positur. Seine Träume und Illusionen, seine Ängste und noch sein Gewissen durchdringt der selbe synthetische Kitsch, der ihn mit den Angeboten kommerzieller und politischer Werbung verknüpft und an ihre wohlfeilen Massenprodukte bindet. Er fördert sein verstohlenes Gefühl, benachteiligt und zukurzgekommen zu sein, und setzt einen fatalen Kreislauf der Selbstbestätigung und des Selbstmitleids in Gang. Hysterische Schaumschlägerei und toxische Psychohygiene in einem Aufwasch.
Wer leben will, muss fügsam sein und biegsam sein. Damit ist auch über die Freiheit in unserer Zivilisation alles gesagt.
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