Verschwörungsstress im Netz

Sie kommen nicht mehr raus, aus ihrem Hamsterrad. Eine Schauergeschichte jagt die nächste, eine grosse Erleuchtung weicht der noch grösseren. Sie halten sich für besonders schlau, ja kritisch, denn sie sind dahinter gekommen, hinter den Mond, wissen wie der Hase läuft. Sie sind jene, die verstanden haben, worum es wirklich geht, eigentlich geht – man beachte die feine Unterscheidung. Das gilt übrigens für alle Themen, wahrhaftige Universalgelehrte sind sie – Pandemie, Flüchtlinge, Europäische Union, Trump, ja sogar Afghanistan, von dem sie seit dem Einmarsch der Amerikaner 2001 wissen, dass es sich um ein Land handelt, eines irgendwo im Osten, wo es viele Ausländer hat. Sie gehen auf dem Pfad der wahrhaftigen Wahrheit, der so hell leuchtet, dass nur wenige dessen Anblick ertragen, während alle anderen Schäfchen und maskentragenden Nazis einfach blindlings den satanischen Kräften hinterherlatschen.

Sie überbieten sich gegenseitig in ihrem Wahn, wenn die Eine sich über Corona-Diktator Alain Berset lächerlich macht – denn die beste Waffe gegen Diktatoren ist Humor –, fügt der Nächste mahnend bei, dies sei keineswegs lustig, denn schiesslich habe man es hier mit Satan persönlich zu tun, ja genau, der Wolf im Schafspelz, pflichtet einer ein paar Zeilen weiter unten bei, aber das unterdrückte Volk werde sich bald erheben und dann drehe der Wind irgendwohin. Nur Roger Köppel hat den Erleuchteten gerade die Suppe versalzen, weil er sich nun doch für das Impfen ausgesprochen hatte. Aber was soll's, den wischt man weg, er sei eben doch ein: Pandemist – ob er auch ein Päderast ist? Und besucht man das Profil jenes Mannes, der Berset als Satan entlarvt hat, donnert einem aus dem Bildschirm die noch grössere Erleuchtung entgegen, wenn da ein alter Mann mit Brille, Bart und Schlafzimmerblick in einem Video von den Erwachten und den Lichtkriegern im Kampf gegen das Böse erzählt. QAnnon lässt grüssen – Trump, der kommt zurück, wird den Kampf der Erleuchteten weiterführen! Aber vorher bleibt noch Zeit, die Katze zu füttern.

Was heute Berset ist, war vor sechs Jahren Angela Merkel, guterhaltene und junggebliebene Tochter Hitlers, die sich – trotzdem oder gerade deswegen (um abzulenken? Psst, wir kommen vom Thema ab…) – mit Flüchtlingen fotografieren lässt, zusammen mit finsteren Kräften den Bevölkerungsaustausch steuert, um die europäische Kultur auszurotten, und darüber hinaus dem hart arbeitenden Volk noch das Autofahren verbieten will. Es war ein Schweizer, der mir sagte, Merkel trage die Schuld an der Spaltung Europas. Wie die olle Mutti die Flüchtlinge einfach reinliess! Da brauchen sich die Eliten nicht zu wundern, wenn das Volk sich mutig erhebt – Wir sind das Volk!!! –, endlich aufräumt und - Ätsch!!! – die AfD wählt. Hehe! Freude herrscht! Und was in Deutschland gilt, trifft oft ähnlich auch auf die Schweiz zu, vor allem wenn es darum geht, dass der geheimnisumwitterte Wind bald drehen soll. Wohin? Das wird man sehen. Zuerst Briefkasten leeren.

Auf ihren Rütlischwur bilden sich die hiesigen Erleuchteten Donnerwetter etwas ein, denn als Schweizer sei man frei und wolle es auch bleiben. Nun, jetzt wo der Satan im Bundeshaus hockt, ist es grad etwas schwierig, aber der Freiheitswille, der unsere Gene stählt, der wird siegen, spätestens wenn Trump wieder kommt, um zu helfen. Moment. Kurz überlegen. Ach, hat keinen Zweck! Eidgenossen! Wahre Genossen! Volkssturm! Trump! Dumpf! Katze füttern. Job suchen.

Wie viele sogenannte Freunde müsste ich bei Facebook löschen, um nicht mehr solchen Unsinn lesen zu müssen? Für mich wäre es eine Erlösung. Und für die Verwirrten wäre es ein Segen, das Internet ganz abzuschalten. Das Hamsterrad kommt zum Stehen. Und das Denken beginnt. Vielleicht. Ansonsten stehen sie irgendwann im Bundeshaus.