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Daniel Costantino

unglück

der einkehr bedürfend, innerer sammlung und äusserster ruhe, schonung vor alltäglichkeit und briefkastenkram und allerlei ablenkungen, vor gutgemeinten anrufen und lästigen dialogen, fasste er den entschluss, sich für eine längere weile in die berge zurückzuziehen, in einem letzten grossen atem seinen roman zu vollenden, die entwicklung und zuspitzung einer grundidee vom leben, ein stoff, an dem er seit drei jahren arbeitete, vielleicht auch schon, seit er beschlossen hatte, sich der schriftstellerei zu widmen, ja seit er zu denken begonnen imgrunde, sah man von ein paar jugendtorheiten ab, denen er so rasch entsagt, wie sie ihn verlockt;

und schrieb seinem freund im fernen tal, unweit italiens, er komme am soundsovielten und gedenke bis in den frühling hinein, je nachdem gar darüberhinaus, zu bleiben, wie er eben vorwärtskomme und das geld ihm reiche, und versäumte nicht, die gut hundert engbedruckten seiten, die er bereits geschrieben hatte, etwa zwei drittel des ins auge gefassten umfangs, sich zu fotokopieren und die kopien zuhause zu verwahren;

die originale nahm er mit auf die reise, und geschähe ein unfall, man konnte nie wissen, oder brannte die hütte ab, die zu behausen er unterwegs, durch einen kaminbrand, einen elektrischen kurzschluss, durch eine aufs papier umkippende brennende kerze während einer kurzen abwesenheit, oder was immer: so verlöre er höchstens das dazugeschriebene, wenn es nicht zu retten gewesen, und der schaden hielte sich noch in grenzen;

doch unfassbarerweise beging sein fahrer im dichten schneetreiben auf der gewundenen passstrasse, die zur hütte führte, einen schweren fehler, in einer haarnadelkurve einem herankommenden postauto ausweichend, das nicht gehupt hatte, trat zur unzeit auf die bremse, der wagen schleuderte, schlitterte seitlich gegen einen baum, drehte, schlingerte, man hörte glas zerbrechen, prallte in einen zaun ungefähr mit einer hintersten kante, er hatte sich um technische ausdrücke nie gekümmert, so dass der kofferraum aufklappte im selben augenblick, in dem der fahrer durchstartete und ihrer beider leben entweder vor dem abgrund oder vor dem kolossalen postauto rettete oder beidem zugleich, jedenfalls stürzten sie nun nicht von spiegelglatter strasse hinunter in die schlucht, doch flog alles im kofferraum sich befindende hinaus und leider hinab, eine decke, zwei regenschirme, lebensmittel, ein ersatzreifen, auch seine manuskripte, die in einer unverschlossenen tasche nur lose obenaufgelegen und sich nun, von schneeflocken aufgewirbelt, über den abgrund ausbreiteten und ihrer vernichtung durch verwässerung entgegenflogen, was ihre leserlichkeit und ihre reproduzierbarkeit gewiss betraf, wer hätte sie in aller eile aufzuhalten vermocht, die er nicht wenigstens durch verschluss der tasche vor solch jammervoller zerstörung geschützt;

obzwar er alles dransetzte: der fahrer, sobald es ging, stoppte den wagen prompt auf sein schreien, er selbst stürzte aus der kabine noch ohne sich recht des sicherheitsgurtes zu entledigen, was erst im schnee draussen, und nachdem ihm das vorbeizirkelnde postauto eine ladung matsch angeschmissen, endlich geschah, fluchte und rannte in richtung einiger noch sichtbar schwebender blätter, fluchte stehend noch am strassenrand, der ihn einen knappen halben fuss von der schlucht trennte, sprang dann entschieden hinunter ins gefälle, nach vier fünf schritten innehaltend, schon auf dem hosenboden und indem er sich gerade noch an einem grossen stein festhielt, ein weitergehen oder –rutschen hätte nur seinen sicheren tod bedeuten können, dasselbe ende wie seinen blättern beschieden, das sah er ein, und da fing er vor dem stein an zu weinen;

danach war ihm elend zumute, und er fuhr nicht einmal mehr zu seinem freund, der unweit des unglücksortes wohnte, ihn von der katastrofe zu unterrichten, sondern befahl, zurück in seine stadt zu fahren, wo er die kopierten seiten in seiner wohnung verwahrt wusste, in einer treuen schublade, unschlüssig, ob er nach neuerlicher kopierung der kopien noch ein zweites mal die hinfahrt wagen oder seine schaffenszeit wohl oder übel zuhause verbringen wollte, sich einfach vor der welt verschliessend als wäre er nicht da;

aber die wohnungstüre fand er erbrochen, den schreibtisch durchwühlt, den sekretär aufgeknackt und die schublade offen, einiges war umgekippt und anderes lag am boden, doch der einbrecher schien nur auf geistiges eigentum spezialisiert, er hatte nichts gestohlen ausser seinem manuskript, ausser die hundert seiten eines zu zwei dritteln fertiggeschriebenen romans, von dem die welt nun nichts erfuhr, weil er keine zweite abschrift davon besass.

 


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