Unkanonische Betrachtungen zu Schubertliedern, dritter und letzter Teil
Wir saßen so traulich beisammen Im kühlen Erlendach, Wir schauten so traulich zusammen Hinab in den rieselnden Bach.
Der Mond war auch gekommen, Die Sternlein hinterdrein, Und schauten so traulich zusammen In den silbernen Spiegel hinein.
Ich sah nach keinem Monde, Nach keinem Sternenschein, Ich schaute nach ihrem Bilde, Nach ihren Augen allein.
Und sahe sie nicken und blicken Herauf aus dem seligen Bach, Die Blümlein am Ufer, die blauen, Sie nickten und blickten ihr nach.
Und in den Bach versunken Der ganze Himmel schien Und wollte mich mit hinunter In seine Tiefe ziehn.
Und über den Wolken und Sternen, Da rieselte munter der Bach Und rief mit Singen und Klingen: Geselle, Geselle, mir nach!
Da gingen die Augen mir über, Da ward es im Spiegel so kraus; Sie sprach: Es kommt ein Regen, Ade, ich geh nach Haus.
In der wohlwollenden Aufnahme eines solchen Gedichts (Wilhelm Müller, aus der ‚Schönen Müllerin’) kommt vieles von dem zusammen, was ich einen parfümierten Humor nenne. Weil ihm die natürlichen Düfte zu herb und zu derb, versprüht er sein temperiertes, süssliches Flair, so dass es bald in jedem Kuhstall genau gleich riecht wie im gehobenen Salon. Da ihm insbesondere der geschlechtliche Trieb und die damit zusammenhängenden Liebesdinge zu schockant erscheinen, regrediert er ins Kindische, Alberne, Babyhafte. Alles Temperament, jedes Pathos verweigert er sich, er muss partout den Ernst ins Lächerliche ziehen, ins Indiskrete, mit Enthüllungen sticheln und prahlen, und das Lächerliche in einen tapferen, hausbackenen Ernst, der wachsam üble Nachrede wie einen Wetterumschwung wittert. Statt Tränen über den Verlust einer Liebe, einer Freiheit, eines Ideals zu vergiessen, zwinkert er schamhaft mit dem Auge. Sein mickriger Zeigefinger, sein bigottes Sündenbeichten, sein läppisches Gebaren und Gehabe erstickt die Leidenschaft im Keime. Er ist nicht nur der Beweis der Unfreiheit, sondern zugleich sein vornehm tuendes Erziehungsmittel dazu.
Ich habe mich lange genug in Konzertsälen herumgeschlagen, um zu wissen, wie das geneigte Publikum auf den Inhalt und die Vortragsweise dieser Verse reagiert. Genau so, wie beschrieben. Herrliche Zeiten und Jugend, wo man so traulich. So selig wie selbst der Bach. Verklärtes Lächeln der Sterne, als wären sie express fürs eigne verknullerte Herz an den Himmel genagelt. Nicht etwa, dass man so dumm wäre, es wirklich zu glauben. Man ist aber so falsch, dergleichenzutun und die Idiotisierung mitzumachen. Und dort, wo man vom andern ahnt, vom ganzen Saale weiss, dass er ebenso falsch spielt, entsteht dieser Zwinkerhumor und entfaltet seine wohltuende und doch so unsägliche Rührseligkeit.
Nun singen die grossen Sänger, dem entsprechend, den Text mit staunendem Augenrollen, mit kosmischem Pathos und und runzelnder Attitüde, besonders wenn sie alt, oder mit neckischer Geste, im Wechsel mit spontanem Liebesschmerz und plötzlichem Gefühlstaumel, besonders wenn sie jung sind. Aber so kann man alles singen, alles. So ein Text stört einen Sänger zuletzt, und es ist ihm nicht zu verargen, dass die Konvention eine grammatische Sprache verlangt. Er könnte ebensogut nur die Vokale singen, nach freiem Ermessen, es würde sich nichts am Klangerlebnis ändern. Zum Beweis nehme man die Oper: wer versteht schon Italienisch, dazu noch lyrisches und veraltetes - nicht einmal die Sänger selbst. Von einem Koloratursopran versteht man die Worte aus physikalischen Gründen sowieso nur, wenn man sie mitliest oder auswendig gelernt hat.
Das Wenigste an der Intension des Textes holt Schubert heraus. Er nimmt die Innigkeit sehr ernst und missachtet die Ironie. Die Komposition entspricht allerdings der Strophenform (mit dem Zusatz, dass die letzte Strophe statt in Dur in Moll erklingt) und damit einer gewissen Distanziertheit, Ausgeglichenheit, wo der Tonfall mehr ausmacht als ein einzelnes Wort. Wenn man das Lied denn spielte und sänge, wie es komponiert ist, und nicht bloss auf die Stichworte des Textes mal verzögert (an den Strophenenden), mal generalstabsmässig laut (‚ich sah nach keinem Monde’), mal bedeutungsschwanger (‚sie nickten und blickten ihr nach’) oder schwerfällig in Form plötzlich und willkürlich abgesetzter Achtel (‚es kommt ein Regen’) reagiert. Auf diese triviale, groteske und leider eingebürgerte Weise kommt die Doppelbödigkeit, die dem Text durchaus eignet, nie zum Vorschein. Der ironisch gebrochene Weltschmerz der Müller-Zyklen ist keine Erlebnis- und Affektdichtung, und auch Schubert hat nicht so komponiert. Das soziale Problem der verarmten Wandergesellen betrachtet Müller, wohlsituiert, aus persönlicher Distanz. So nun der Sänger meint, er müsse höchstselbst den juvenilen Wandergesellen mimen, effekthascherisch vom Hütt zum Hott hüpfen, da verklärt, dort verliebt, hier depressiv und da wieder donnernd auf den Gefühlshaushalt des Zuhörers einwirken, und alles im einen, selben Lied, irrt er sich wohl. Die Strophenkonzeption der meisten dieser Lieder und ihr Volksliedcharakter sperren sich gegen eine zu indivisualisierte, psychologisierende Form des Vortrags.
Wenn ich auch gestehen muss, dem versteckt-ironischen und insofern gelinderten Weltschmerz des müllerschen Werks, seinem gleich Heine so traulich-heimatlichen, so sündenlos reinen, so gnadenlos aseptischen, in dessen Worten: wahren und einfachen Klang nichts Gutes abgewinnen zu können, so muss ich gleichwohl sagen: mit solcher Aufnahme und Interpretation wird ihm unrecht getan. Hier haben wir einen Fall, wo nicht die Musik den Text in den Schatten stellt, sondern seine Interpretation die Komposition.
Der Text trägt keine Musik und die Musik keinen Text. Beides lebt aneinander vorbei, ähnlich dem Paar unterm Erlendach. Seine doppelte Distanziertheit, sein merkwürdiges Beziehungsarrangement wird kompositorisch nicht umgesetzt. Da sitzt einer neben seinem Mädchen und träumt in den Bach hinein. Alle Sehnsucht gilt dem Spiegelbild, als sässe neben ihm eine Puppe. Die Traulichkeit scheint nur Staffage, Persiflage und Reminiszenz. Der saloppe Abgang des Mädchens spricht sehr dafür und sagt alles. Man hat sich ineinander getäuscht. Es handelt sich hier nicht um unerfüllte, nicht um verschmähte Liebe, sondern um einen Irrtum.
Und es lässt sich fast sagen, Schubert habe ihn nicht bemerkt und sei ihm infolgedessen auch nicht aufgesessen.
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