Kitsch? Geschmackssache. Rein subjektives Urteil. So reden viele. So haben viele schon immer gedacht. Sie zerbröseln die Substanz des Begriffs solange, bis er ihnen positiv erscheint und seine Liquidierung ihrer eigenen korrupten Sprache zupasskommt. Manch siebengscheiter Literatur- und Kunstrezensent leistet wacker Support und stellt sich dabei so dumm an, dass sich sein dümmster Leser noch klug dünkt und ihm dankbar aus der Hand frisst. Die Analyse gilt natürlich nicht nur für den literarischen Markt und die Disziplinen der Kunst, sie trifft auf alle medialen Bereiche und selbst auf den gesellschaftlichen Umgang zu. Kitsch, könnte man sagen, ist das Brautkleid der Dekadenz.
An zwei Passagen des Kriminalromans „Der sechste Passagier“ von Theodor Kallifatides (erschienen 2002) sei die Sache etwas genauer unter die Lupe genommen:
> Dr. Strömhed bat ihn, eine Bahre aus dem Gefrierfach zu ziehen. Es war der Junge, der sechste, unbekannte Passagier aus dem abgestürzten Flugzeug. Der dünne junge Körper war nackt, im Zustand des Todes gefangen wie ein Schiffsmodell in der Flasche. Er würde keine Reisen mehr machen, keine der Freuden und Vergnügungen eines jugendlichen Körpers erleben. Die Kälte hatte seine Haut mit kleinen, glitzernden Eiskristallen überzogen. Die beiden Frauen fühlten sich geblendet wie von einem Sonnenuntergang. Und sie wünschten sich etwas. Sie wünschten sich, diesem Jungen das Leben wiederzugeben. <
Eine gute Idee, den Toten im Gefrierfach mit einem Gegenstand zu vergleichen, der in einer Flasche gefangen ist. Aber ein Schiffsmodell entbehrt jeder Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper. Man denkt an Segel und Masten, die in die Höhe ragen, indes die flachliegenden Gliedmassen des Jungen ein anderes Bild ergeben. Blaise Cendrars hat einmal einen tot am Boden liegenden Menschen mit einem umgekippten Kahn verglichen und damit ein äusserst eingängiges Bild geprägt, das ebenso die Schräglage des Körpers beschreibt wie seine Starre und darüberhinaus eine Verkrümmung im Todeskampf suggeriert. Noch das Hochheben und Wegtragen der ungelenken Leiche kann man sich ohne weiteres so vorstellen, als würde ein Kahn aus dem Weg geräumt. Kallifatides‘ Schiffsmodell aber ist nicht dazu geschaffen, auf Reisen zu gehn, es wäre denn als ein willenloses Spielzeug, mit dem Kinder spielen am Bach, was den idealisierten „Freuden und Vergnügungen eines jugendlichen Körpers″ gewiss nicht entspräche.
Auch der Sonnenuntergang, als Metapher eines abrupt aus dem Leben geschiedenen jungen und hoffnungsvollen Menschen gedacht, ist fehl am Platz. Ein Sonnenuntergang ist ein lebhaftes und lebendiges Naturschauspiel, ein toter Körper starr und unbeweglich. Eine untergehende Sonne vollendet ihren ganzen Lauf und gerät nicht plötzlich und am hellichten Tag aus ihrer Bahn oder fällt vom Himmel. Der Vergleich wirkt wie dem Satz aufgepropft. Was ausserdem für die Reflexionen einer allmählich versinkenden Sonne gelten mag, die den Licht- und Schattenverhältnissen einer Leichenhalle vergeblich entgegenstrahlt. Sie werden zusammen nicht kommen.
Man erwartet ja nicht, Literatur in einem Kriminalroman zu finden, und will über seine generelle grammatische Armut hinweglesen, solange es ihm an spannender Handlung nicht gebricht. Aber die Spannung speist sich nur aus dem, was der Autor einzig aus dem Grunde verschweigt, sie zu erzeugen, und die Auflösung bietet einen faden Knochen feil.
Die Handlung, die Motive, die Themen stellen sich solche Autoren aus den Tagesmedien zusammen, aus den gepushten Mainstream-Schlagzeilen ihrer Kollegen im Geist. Vox populi missfallet nie. Pro Kapitel ein kleiner Exkurs in eine lächerliche Pseudophilosophie, immer wieder ein paar Schlüpfrigkeiten, Erotik genannt, fertig ist das Grundrezept für einen preiszukrönenden Roman. Wenn es nur für das Genre des Kriminalromans gälte!
Es wird mit den zufriedenen Lesern solcher Sprache bald soweit kommen, dass ihre einzigen Verben aus sein und haben bestehen und nur eine Form kennen für die Gegenwart, das Präsens, nur noch ein immer unvollendetes Präteritum und weder ein Futurum noch einen Konjunktiv, welcher Art auch immer, sondern eine alles in eins fassende Würde-Form.
> Der Lotse war ein junger Mann, eine Urlaubsvertretung, und er war völlig verzweifelt. Das war sein erster Unfall. Gerade hatte er das Flugzeug noch auf dem Radarschirm gesehen, im nächsten Moment war es verschwunden. Es war gespenstisch. Ein kleiner Punkt mit einer Gruppe von Menschen an Bord, ein elektrisches Signal voller Lebewesen, das er mit knappen, präzisen Anweisungen dirigiert hatte, um es in die richtige Position für die Landung zu bringen, und das ihn am Ende zum Narren gehalten hatte wie der Blick eines jungen Mädchens im Vorübergehen. Er hatte in sein Funkgerät gerufen, dann geschrien, und als ihm klar wurde, was geschehen war, hatte er geweint. <
Mit stupenden Vergleichen, die danebenhauen, gilt ein Autor dem Publikum wie den meisten Rezensenten als poetisch. Es gibt begabtere als Kallifatides, zum Beispiel den Amerikaner T.C. Boyle, der das Zeug zum grossen Erzähler hat und diesen Anspruch manchmal einlöst („América“, „Drop City“), in andern Romanen aber mit Kaskaden von bewusst krassen Vergleichen blufft und so jede Atmosphäre zerstört und zu einem rechten Phrasendrescher mutiert („Willkommen in Wellville“ und zum Teil auch „Grün ist die Hoffnung“). Die oben zitierte Passage steht für die Qualität des ganzen Romans des Theodor Kallifatides, das Meiste ist etwa so geschrieben, manchmal, selten, etwas besser, mitunter auch schlechter. Wer sich im Ernst auf die Sätze einlässt, wird feststellen, dass der kleine Punkt auf dem Radarschirm eine Selbständigkeit entwickelt, die seiner Symbolfunktion nicht mehr entspricht. Er mutiert zum Signal voller Lebewesen, als wäre er eine trächtige Ameise und als würde er selbst die Anweisungen des Lotsen entgegennehmen und nicht mehr der Pilot an Bord. Das heisst, den Bogen zu überspannen. Das elektronische Signal, das den Lotsen zum Narren hält, wäre des Guten genug gewesen. Sind solche Übertretungen dem Unwillen des Autors geschuldet, über die Dinge nachzudenken und Bild und Satz im Griff zu haben, vielleicht auch grammatischer Faulheit da und dort, greift er mit der Metapher des jungen Mädchens gestalterisch ins Geschehen ein und zieht es auch gleich in den Kitsch hinunter. Das neckische Mädchen passt zum Geschehen wie die Faust aufs Auge und diskreditiert die Dramatik der Situation und die Verzweiflung des Lotsen unwiederbringlich.
„Ein poetischer Roman aus Schweden, wie er uns selten begegnet“, weiss der „Tagesspiegel“ das Werk zu loben. Das lässt mich an einen Satz Karl Kraus‘ über die Zeitungen denken, der ebensogut für die Verlage gelten kann: Die Verlage haben früher das Niveau ihrer Autoren gehabt und haben jetzt das ihrer Leser.
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