Spezifika
- Daniel Costantino
- 31. Juli 2024
- 2 Min. Lesezeit
Die Erinnerung an Gelesenes erfolgt übers Ohr, am ehesten übers Ohr. Als hätte man mitgesprochen und spulte nun ein Tonband der inneren Stimme ab. Man liest ja wohl auch mit offenen Ohren. Jedenfalls überwiegt in der Erinnerung der Eindruck des Hörens, nicht des Sehens. Dagegen scheint sich Gehörtes als Erinnerung manchmal zu bebildern. Ein Dialog, dem man vor Jahrzehnten beigewohnt hat, ist nicht erinnerlich ohne eine gewisse Vorstellung des Ortes, wo er sich zugetragen hat, und selbst einzelner Gesten der daran Beteiligten. Nun hört man fast mit den Augen, könnte man sagen.
Die Eigenart der Tonarten. Sie unterscheiden sich wie Bäche von Flüssen, Ströme von Seen. Manche färben sich in helles, fast durchsichtiges Blau, andere zu tiefem Dunkelblau, etwa f-moll, mit schwärzlicher Grundierung. Wieder andere schimmern gelblich oder irisieren grün oder ähnlich dem Meer an der Côte d’Azur. Zudem holländische Landschaften, Hügelzüge, Gebirgskulissen. Und sehr viel Stimmung aus Kindertagen, ja, Gefühlsgerüche aus ganz frühen Kindertagen.
Nichts wollte ich mehr mit der kleinen Stadt zu tun haben, in der ich meine Jugendjahre habe verbringen müssen. Doch heute, Jahrzehnte später, höre ich einen Soziologen im Fernsehen sprechen, der vor noch längerer Zeit abgehauen ist und seither im französischen Sprachraum lebt, seine Bücher sogar auf Französisch schreibt. Ich erkenne genau dieselbe dialektale Färbung, die auch meine eigene ist. Sie unterscheidet sich nur in Nuancen von jener, die ich in meinem Alltag höre, ich bin mir dessen garnicht mehr bewusst gewesen. Halb freut’s mich, wie es ein Kind freut, einen neuen Spielgefährten zu finden, halb erschreckt mich der Gedanke, in meinem eigenständigen Leben seither keinen Schritt weitergekommen zu sein.
„Wie sollen denn die an einem Ereignis unmittelbar Beteiligten im voraus wissen, ob es ein grosses wird? Doch höchstens, weil sie sich einbilden, dass es eines ist! Wenn ich also paradox sein darf, möchte ich behaupten, dass die Weltgeschichte früher geschrieben wird, als sie geschieht; sie ist zuerst immer so eine Art Tratsch.“
Stumm von Bordwehr, Musils General und Fachbeirat für zivile Geistesfragen. (Aus dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften.)
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