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Schnee (Fragment)

Eines Morgens öffnete Konrad Wiederkehr die Tür, um einen Freund zu empfangen, doch statt der beschaulichen Quartierstrasse klaffte knapp vor seinen Füssen eine Baugrube. Sie musste über Nacht gekommen sein. Senkrecht fiel der Boden auf der ganzen Breite des Hauses ab. Die Baugrube glich einem Krater, der sich bis weit über die andere Seite der Strasse hinaus erstreckte. Sein erster Gedanke war, im Briefkasten nachzusehen. Normalerweise wurde die Anwohnerschaft von der Gemeinde per Schreiben über Bauarbeiten informiert. Doch der Weg zum Briefkasten seitlich der Zufahrt war weg. Man hatte daran gedacht, die Baugrube mit Schranken zu sichern. Das beruhigte ihn, musste es sich also um eine ordentliche Baustelle handeln. Doch: Die Aushebung eines solchen Kraters direkt vor seinem Haus hatte sicher grossen Lärm gemacht. Und er hatte nichts bemerkt? Dieser Gedanke weckte Zweifel. Ihm blieb aber nichts anderes übrig, als sich mit den Tatsachen abzufinden. Den Stier bei den Hörnern packen. Das hatte er sich über die Jahre so beigebracht. Einst, in einem Psychologieseminar, das er aus reiner Neugier besucht hatte, wurde ihm eine hohe Resilienz bescheinigt. Er sei jemand, der sich so leicht nicht aus der Bahn werfen liesse. Darauf war er immer ein bisschen stolz. Ausserdem: Eine Baustelle per se war nichts Ungewöhnliches – es wurde viel gebaut in jener Zeit. Tief in der Grube standen Männer mit orangenen Anzügen und Helmen. Ihr Aufzug passte zu Bauarbeitern, wie man sie überall in der Gegend kannte. Obschon sie, wie in der Branche üblich, laut gestikulierten, konnte er ihre Worte nicht verstehen. Sie waren zu weit weg. Er hätte sie rufen können. Fragen, was los sei. Doch Schreien entsprach nicht seiner Art. Also blieb er still. Ein paar Männer schweissten an Verbindungsfortsätzen von schwarzen Rohren, die kreuz und quer den Grund der Grube durchzogen. Ob es neue Leitungen zu verlegen gab? Ein Bauarbeiter sass auf einem Vorsprung aus Beton in der Wand, schaute in die Grube zu seinen Kollegen hin und ass ein Sandwich. Wiederkehr schloss daraus, dass es sich um eine seriöse Firma handeln musste, hatten die Arbeiter doch das Recht, eine Pause zu machen. Jetzt kam ihm in den Sinn, dass in seinem Haus das Frühstück wartete, welches er für seinen Freund und sich vorbereitet hatte. Der Kaffee würde kalt werden. Er prüfte links und rechts, ob es einen Weg entlang der Hauswand gäbe, der ihn aus dem Bereich der Baustelle führe. Doch an vielen Stellen fiel der Krater beinahe nahtlos von der Hausfassade ab. Jeder Versuch wäre zu gefährlich gewesen. Ausserdem war die Schranke im Weg. Plötzlich hörte er Jauchzer und Schreie. Den Lauten haftete etwas Tierisches an. Sie kamen, wie er jetzt erkennen konnte, von einer Person aus einem tiefen Bereich auf der gegenüberliegenden Seite der Grube. Dort, wo Schweissgerät das Gestein zum Funkeln brachte. Und jetzt erkannte er ihn: Zwischen Maschinen, Metallgerüsten, Bauarbeitern und Feuerfunken hüpfte und tollte wie ein Irrer der Freund, den er erwartet hatte. Zuerst überkam ihn grosse Sorge. Er fragte sich: Was war mit ihm passiert? Wie war er überhaupt in die Baugrube gelangt, hatte er doch einen steifen Rücken? Normalerweise bewegte er sich sachte, ging Hindernissen aus dem Weg. Jetzt aber sprang er kreuz und quer umher als wäre das ganz selbstverständlich. Ob er Drogen genommen hatte? Auch das wäre untypisch gewesen. Jetzt wich seine Sorge der Kränkung, machte der Freund doch keine Anstalten, den Weg zu ihm wieder aufzunehmen. Wie kam er dazu, das Treffen zu sabotieren? Wiederkehr holte sein Handy aus der Hosentasche und rief ihn an. Es dauerte lange, bis er endlich ranging. Was los sei, fragte er den Freund in der Baugrube. Der lachte und sagte voller Glück: «Ich habe jetzt andere Freunde gefunden. Es ist grossartig. Mach’s gut!» Er legte auf. Groll verdunkelte Konrad Wiederkehrs Tag, der doch gerade erst begonnen hatte. Es wurde ihm eisern ums Herz. Seine Seele sträubte sich gegen das, was er gerade erleben musste. Er ging, Jauchzer und Schreie des verlorenen Freundes verklangen, zurück in sein Haus, um der Sache auf den Grund zu gehen. Es musste eine plausible Erklärung geben, war er doch trotz allem wach bei Verstand. Wie er die Treppen hoch in seine Wohnung ging, begleitete ihn ein Traum, den er früher, in seiner Zeit als Lokomotivführer, oft gehabt hatte: Er stand in der Führerkabine des Zuges und bekam das Signal, doch als er abfahren wollte, waren die Schienen plötzlich weg. Der Zug liess sich nicht bewegen. Er wollte eine Lösung finden, doch je mehr er versuchte, desto weniger hatte er eine Ahnung. Bis er nicht mehr wusste, was Schienen überhaupt waren. Dann liess ihn die Panik endlich erwachen. Er schimpfte mit sich selbst, er hasste solche Träume. Sie waren Alarmzeichen, schauderte ihm doch beim Gedanken an jene Leute, die von Sinnen in der Öffentlichkeit vor sich hinredeten und dabei seltsame Bewegungen machten. Von denen gab es, wie ihm schien, immer mehr, er aber wollte auf keinen Fall so sein. Was ihm heute morgen widerfuhr, erschien ihm schon surreal, doch sein Verstand weigerte sich, dies anzuerkennen. Zurück in der Wohnung kippte er frostig den kalten Kaffee, der bitter schmeckte, nahm sein Festnetztelefon und rief bei der Gemeinde an. «Guten Tag, hier spricht Konrad Wiederkehr. Als ich heute aus dem Haus wollte, versperrte eine Baugrube den Weg. Der ganze Vorplatz, die Parkplätze und die Strasse aufgerissen. Gestern war alles noch normal. Können Sie mir dazu eine Erklärung geben?» Eine Dame sagte ihm, er sei nicht der einzige sei, dem es so erging. Viele Menschen im Dorf hätten diese Heimsuchung erlebt, könnten ihre Häuser nicht verlassen. Heute Abend werde die Gemeinde die Bevölkerung über einen Livestream informieren. Ob er ihr seine E-Mail-Adresse geben könne, er würde im Laufe des Tages den Zugangslink erhalten. Damit gab sich Wiederkehr nicht zufrieden, er würde sich nicht abspeisen lassen, schliesslich hatte er gerade einen Freund verloren: «Sie werden wissen, wer dafür verantwortlich ist? Es kann doch nicht sein, dass jemand ohne Vorwarnung unsere Umgebung dermassen verunstaltet, die Leute nicht zur Arbeit fahren, keinen Besuch empfangen können.» Die Dame am Telefon entschuldigte sich lieb. Auch ihr schien nicht ganz Wohl bei der Sache, doch Wiederkehr liess nicht locker: «Und ausserdem: Was ist mit jenen, von denen Sie keine E-Mail-Adresse erhalten oder solche, die vielleicht gar keinen Computer haben?» Sie wisse es nicht, sagte die Dame nur. Grundsätzlich sei es heutzutage schwierig, die Leute zu erreichen, aber die Gemeinde tue ihr Bestes.

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