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Schnee 4 (Fragment)

«Entschuldigen Sie die Wartezeit.» Er hörte die Stimme. Die Mattheit fiel von ihm ab. Eine Dame bat ihn mitzukommen. Sie führte ihn durch einen Korridor zu einem anderen Zimmer, das ihr Büro zu sein schien. Obschon die Frau in den mittleren Jahren – ein rundes, blasses Gesicht schaute aus den Tüchern, die sie sich über die Schultern geworfen hatte – etwas schwerfällig schien, bewegte sie sich flink über den Amtsflur, jeden Griff, jeden Schalter kannte sie blind. Er fragte, ob das Arbeitsamt schon immer in diesem Industriegebiet gelegen habe, sei es doch so schwer zu finden. Die Frau lachte auf, als ob die Antwort vergebens wäre. «Sie dürfen hier an der Seite Platz nehmen», sagte sie und begann – während die Uhr über ihrem Bürotisch Minuten zählte – den Arbeitsplatz einzurichten. Dabei schien ihm, als griffe sie mit den Händen über die Tastatur in den Bildschirm ihres Computers hinein, als gäbe es da etwas zu justieren, was Geduld und Präzision erfordere. Ihr Kopf rückte, einer Taube ähnlich, in wechselnden Winkeln zum Monitor. Er schaute zu, verbot sich den Gedanken, die Frau – sie schien ihm sympathisch – wolle ihn zum Narren machen. «Seit das neue System installiert ist, haben wir Probleme.» Sie seufzte tief, stand auf. Sortierte Dokumente auf der Ablage seitlich des Tisches. Verschob eine Vase von einem Ende ans andere. Jetzt hielt sie inne. Schaute durch das vergitterte Fenster, den Rücken ihm zugewandt. Dann drehte sie sich um und setzte sich wieder hin. «Wie kann ich ihnen weiterhelfen?» Ihre Anteilnahme rührte ihn, doch wusste er auf ihre Frage keine Antwort. Draussen toste Arbeitsverkehr, metallenes Grollen und Tiefenrauschen zitterte an Fensterscheibe. Er sah sich das Zimmer an, in welchem die Frau ihre Tage zubrachte. Auf zwei Fotografien lachten Gesichter, eine Kinderzeichnung verzierte die blanke Wand und ein Rest Sonne goss weisses Licht über den Bildschirm, der auf dem Bürotisch stand. In die Stille gab er eine Erklärung ab: Er schreibe zwar für eine Zeitung, habe ein Auskommen, dieses jedoch reiche nicht, um das Leben zu bestreiten. Er suche deshalb eine andere, besser bezahlte Arbeit. Das Kinderbild an der Wand winkte ihm zu, ein Haus mit einem Männchen davor, Himmelblau, Erdengrün, Sonnengelb. «Für welche Zeitung schreiben Sie?» Als er antwortete, zitterte seine Hand. Der Umstand, noch immer seinen Namen in der Zeitung zu wissen, liess ihn den Schrecken der vergangenen Tage spüren, er dachte an die vielen Augen, die seinen baren Zeilen Woche um Woche folgten, sich ergötzten an Buchstaben, Worten, Sätzen, auf die Leute spuckten und sich angewidert abwandten – auch mancher Fasnächtler wird die Zeitung lesen, um seine Verfehlungen wissen. Hey. Lenzburg. Wochenzeitung. Ob er alle seine Arbeitszeugnisse eigereicht habe? Er bejahte und fühlte sich ob der Lüge schlecht, waren es doch einzig modrige Zettel, vergilbte Kopien, verdorrte Blätter gefickt von der Zeit, die er dem Amt geschickt hatte. Schlecht getarnte Versuche, eine Linie zu zeichnen, wobei er selbst sich zwar an den einen oder anderen Arbeitgeber erinnerte, jedoch meist vergessen hatte, was er an diesem oder jenem Ort gemacht hatte. Jetzt brauchte er Geld und an der Lüge führte kein Weg vorbei. Die Dame nahm sich Zeit – ihm war verdrossen, eng in der Brust –, liess sein Leben über den Bildschirm gleiten, prüfte die Dokumente, als sie ganz plötzlich stutzte. «Auf diesem Arbeitszeugnis fehlt der Text. Nur Firma und Ausstellungsdatum vermerkt.» Um welches Büro es sich handle, wollte er wissen, während sein Stuhl zur Seite kippte und er sich an der Tischkante festhalten musste. Der Harlekin, der sich an sein Leben krallte, hatte den Makel der Frau im Amt vor die Nase geworfen, handelte es sich doch ausgerechnet um jene Firma, an die er sich wohlweislich erinnerte, über die er aber nicht sprechen wollte, zu gross war ihm die Qual gewahr, als dass er sie hätte leugnen können. Andererseits schien der Moment eine Fügung, war er doch dabei, die Sache endlich nach aussen zu kehren. Er dachte an die Jugendlichen neulich im Bus, an die grauen Augen, die auf ihm ruhten, daran, dass es möglich schien, alles wieder gut zu machen. Jetzt sagte er: Das Dokument habe er der Vollständigkeit halber beigelegt. Er habe den Arbeitgeber wiederholt darum gebeten, ein Arbeitszeugnis oder eine Arbeitsbestätigung auszustellen, jedoch bis heute keine erhalten. «So kann ich mit dem Dokument nichts anfangen. Bitte fragen Sie bei der Firma erneut nach.» Er nickte nur. Dabei kam das leere Dokument der Wahrheit näher als jedwede Zeile, die er dem Amt geschickt hatte.

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