Schnee
- Caspar Reimer
- 1. Mai 2024
- 3 Min. Lesezeit
Noch war er die meiste Zeit wach im Verstand, doch manchmal suchten ihn böse Vorboten heim. Auf Karneval – die irren Hexen, Teufel und Clowns hatten sich zum Wintervertreiben, dem Massenabsturz in allen Gassen versammelt – vermeinte er, es schere niemanden, wer er war, gleiche er im Donnergrollen und Sirenengeheul einer kleinen Maus zu Füssen des Volkes, das toste, trampelte, immerfort im Gleichschritt, als sei der Krieg ins Land gekommen. Umso grösser der Schreck, als sich aus den kalten Körpern ein Harlekin löste, auf ihn zu kam, mit dem Blick fixierte, die Hand nach ihm streckte und einen schäbigen Tanz aufführte, der ihm zu gelten schien. Die Angst packte ihn am Nacken. Er war sicher, dass der Harlekin Böses wollte, erinnerte er sich doch an die Drohung, die er am Morgen auf seinem Mobiltelefon erhalten hatte. Junge Burschen lachten, feuerten den Tänzer an, während sie wie die Irren ihr Bier soffen und Mädchen nachjohlten. Der Gestank von Alkohol klebte im Winterdunst. Kleine Kinder schrien, warfen Orangen ins Winterlicht und eine traf seinen Kopf, der zu zerbrechen drohte. Hey. Lenzburg. Wochenzeitung. Drei Worte waren es, die ihn morgens auf dem Bildschirm seines Mobiltelefons verspottet hatten. Obschon sie nicht mehr von sich gegeben hatten als den Ort, wo er aufgewachsen war, nichts weiter benannt hatten als das Blatt, für das er schrieb. Absender der Nachricht waren Leute seiner Gegend, seines Alters. Amateurmusiker. Er hatte ein Interview mit ihnen geführt. Den Text, wie er das zu tun pflegte, zur Ansicht versprochen. Die Nachricht hätte als Erinnerung verstanden werden können. Für ihn war sie eine Drohung. Man wusste, was er für einer war. Teufel komm raus. Er war umzingelt. Der Harlekin verzog sein schwarzes Maul, ein gefrässiges Loch, aus dem Erdbeerduft strömte. Jetzt wurde er gewahr, dass ein Freund ihm die Hand auf die Schulter legte – ein Gruss der Tage, die ihm wohlgesonnen schienen – , fragte, ob er den Harlekin kenne. Er wisse es nicht, sagte er. Dann stachen die Wölfe ins Menschendickicht und vertrieben das Gespenst.
Jemand musste ihm auf den Fersen sein. Das Erlebnis an der Fasnacht, die Nachricht an jenem Morgen schafften Gewissheit. Doch schon zuvor drängte eine Ahnung, dass die Welt sich gegen ihn wandte, wie ein flauer Schrecken, der kommt und beharrlich währt, ans Tageslicht. Kürzlich, als er im Bus sass, den Kopf nach aussen gestülpt, drehte sich eine Schar Jugendlicher, die den Korridor zwischen den Sitzen flankierte, zu ihm hin. Erst war er sich nicht sicher, ob die Aufmerksamkeit ihm galt, zwang seinen Blick weg, starrte hinaus aus dem Fenster in den Tag, dessen Gleichgültigkeit, bar jedes Blickfangs, jeder Sicherheit, ihn erschreckte. Er konnte spüren bis unter die Haut, dass die Jugendlichen ihn betrachteten. Zitternd drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und sah die jungen Puppen, wie sie dastanden, ihn still mit halbwegs offenen Mündern anschauten. Es gab keinen Zweifel: Es hatte ihnen ob ihm die Sprache verschlagen. Eine Begutachtung in aller Öffentlichkeit, eine Zurschaustellung dessen, was lange in ihm verkrochen war, nun aber ans Tageslicht kehrte und in ihm die Lust, sich selbst zu schaden, anfachte. Schliesslich gab es nichts, so sehr er seinen verbliebenen Verstand dagegenstemmte, was ihm näher lag, ein Ding, das selbstverständlich zu ihm gehörte, darauf wartete, befriedigt zu werden. Also stand er auf, ging zu den Jugendlichen hin. Ob etwas nicht in Ordnung sei, wollte er wissen. Ganz im Gegenteil. Sagte einer. Alles einwandfrei. Picobello sogar, brachte ein anderer vor, während dessen graue Augen in aller Selbstverständlichkeit auf ihm ruhten. Die Luft, stickig, trocken, atemraubend, drückte ihm die Kehle, die Zeit klebte an Sekunden und beim Anblick der Gesichter schoss ihm in den Sinn, dass er sich vor Jahrzehnten, am letzten Schultag, von keinem einzigen Kollegen verabschiedet hatte. Getürmt war er wie ein stummer Schrei, Fenster, Treppen und Gemäuer barsten, mit ihnen die Stunden, Tage, Wochen und Jahre, die ihm Gefängnis waren, und unter den Trümmern erstickte Hoffnung und Versöhnung für viele Jahre. Manchmal holten ihn Träume in die Schule zurück – eine Prüfung, die er versäumt hatte, die es nachzuholen galt, doch betrat er das Klassenzimmer, fand er keinen Platz, wo er sich hätte hinsetzen können, traf er Schüler ohne Augen, Prüfungsblätter ohne Aufgaben, Lehrer ohne Namen. Er hätte einen Vortrag halten müssen, den Papierfetzen aber, auf dem geschrieben war, was er sagen sollte, liess sich nicht finden. Ob man ihm helfen könne, fragte der Jugendliche im Bus endlich und mit einem Wimpernschlag sah er die Burschen und Mädchen plötzlich messerscharf klar, tief, verletzlich. Er schämte sich. Jetzt hätte er seine Hand austrecken, sich für alles entschuldigen wollen, Rührung überkam ihn, doch da hielt das Fahrzeug an, riss seine Luken auf und er stürzte unter Tränen hinaus in die Welt.
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