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AutorenbildCaspar Reimer

Schauspiel am Bahnhof

Es ist ein wiederkehrendes Schauspiel, das er täglich von seiner alten Sitzbank aus, mit einer Bierdose in der knochigen Hand, eine Zigarette nach der anderen rauchend, an einem abschüssigen Ort seitlich des Bahnhofs, beobachtet. Von seinem Platz aus hat er, obwohl dieser nicht in der vordersten Reihe liegt, eine gute Sicht auf die Bühne und die Menschen, die sie bespielen. Dieser Platz, eigentlich nichts weiter als eine freie, mit Asphalt gepflasterte Fläche, schnörkellos zwischen einer Unterführung, die zu den Geleisen führt und dem Zebrastreifen über eine Zufahrtsstrasse zur Stadt, dieser ­– wenn man so will – Abschnitt der Welt, ist ihm vertraut und lieb geworden. Er ist sein Zuhause, sein Terrain und die Deutungshoheit über das, was sich hier immer und immer wieder abspielt, obliegt ihm. Das denkt er manchmal so bei sich, leicht triumphierend, vielleicht etwas bierselig in sich hinein lächelnd.


Auch für ihn gibt es einen Unterschied zwischen sogenannten Werktagen und dem Wochenende, zwischen Tag und Nacht, den Zeiten der Dämmerung und dem Mittag. Und das, obwohl er doch eigentlich immer das Gleiche tut, nämlich zuschauen, ja beobachten. Und das seit Jahren. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ihm die Polizei seine Bank gelassen hat – aber das ist ein anderes Thema. Es sind die Schauspieler, die der Bühne ihren Stempel aufdrücken, den Geist der Szenerie bestimmen: Wenn der Bahnhof, kaum ist der Tag richtig angebrochen, der letzte Schlafwandler nachhause gegangen, eine Horde hetzender Zombies ausspuckt, von sich selbst verlassen wie Irre, die sich fast gegenseitig zertrampeln, dann bleibt er auf seiner Bank und empfindet, während er einen Schluck Bier gurgelt, eine Mischung aus Distanziertheit und Ekel, manchmal auch etwas Mitleid. Dabei gibt es einen Unterschied der Temperierung nach Altersklassen: Die Jugendlichen nehmen zwar an der Szenerie teil, stellen sich dabei aber - verbarrikadiert oder vielleicht auch geschützt in der Welt ihres Smartphones - entweder tot, nehmen also teilnahmslos teil oder quatschen mit Gleichalterigen, als wären sie sich der Ernsthaftigkeit dessen, was sich um sie herum abspielt, nicht bewusst, als hätten sie kein Ziel vor Augen. Im Gleichschritt mit den losbrechenden Werktagen befinden sich Menschen, die er so dreissig, vierzig, vielleicht noch fünfzig schätzt: Sie uniformieren die Szene mit Kostümen, denen etwas Repräsentatives anhaftet, sie scheinen sich – so könnte man es vielleicht ausdrücken – auf dem Höhepunkt von irgendetwas zu befinden. Kinder und Alte sind während dieser Phase kaum zu sehen. Man scheint ihnen keine Rolle zuzutrauen. (bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug)

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