Auf den Tod des Freundes folgte ein Leben in der Schwebe. Seine solide Existenz, die er während Jahren in wohliger Zweisamkeit aufgebaut hatte, brach wie dünnes Eis unter seinen Füssen weg. Materiell ging es ihm keineswegs schlecht, jedoch schien alles, was sein Leben bisher ausgemacht hatte, verpufft und erloschen. Wenn immer möglich mied er es, einer gewöhnlichen Tätigkeit nachzugehen, denn dies kam ihm nicht nur ordinär vor sondern hätte auch bedeutet, sich vom verstorbenen Freund abzuwenden. Ganz am Anfang, als ihn beim Gedanken an den Verlust eine Welle der Panik durchströmte, ein Gefühl, ins Leere zu fallen, tat er exzessiv das, was er mit seinem Freund tausendmal getan hatte – er reiste im Zug kreuz und quer durchs Land. Besonders dann, wenn der Zug sich jeweils in Bewegung setzte, kamen ihm die Tränen, Weinkrämpfe überwältigten ihn und er hörte in sich die Musik, die ihn seit der Botschaft, sein Freund sei tot, immer begleitete, dramatisch und eindringlich dröhnen. Er erzählte niemandem, wo er sich aufhielt, hätte sich der Zug unterwegs in Luft aufgelöst oder wäre einen Abhang hinuntergestürzt, kein Mensch hätte um seine letzten Stunden gewusst. Er war der Welt abhanden gekommen, hing an einem dünnen Faden, der die Erinnerung war, in einer traurigen Blase, zu der nur er Zutritt hatte. Er suchte Orte auf, wo er mit seinem Freund gewesen war, ahmte alte gemeinsame Rituale bis ins kleinste Detail nach und trug seinen Freund auf einem geistigen Thron vor sich her. Niemand hatte ihn dabei zu stören, er war ein Geist und die Menschen um ihn herum Statisten. Es waren aber auch die Nachmittage, an denen er ohne Ziel durch die Stadt, manchmal auch durch den nahegelegenen Wald wanderte, mit der Strassenbahn lange Strecken hin und her fuhr, an einer Haltestelle ausstieg, eine Zigarette rauchte, um dann die Seite zu wechseln und ein paar Kilometer in die Gegenrichtung zu fahren. Der Fahrplan, der immer gleiche Pfeifton beim Schliessen der Türen an den Haltestellen oder die rhythmische Abfolge von Anhalten und Weiterfahren war das Einzige, was diesen Nachmittagen eine Struktur verlieh. Er las während seiner Fahrten zwar Zeitung, doch es war anders als früher, der Informationsempfänger, also er, war ein Anderer geworden. Da, wo das Geschriebene ankam, war nur ein Hauch von etwas, das einmal existierte. Wie ein Geist schwebte er durch die Welt, die er zur Kenntnis nahm, ihn aber nicht berührte. Der Tod des Freundes hatte ihm jede Bodenhaftung entzogen. Wenn er den Friedhof aufsuchen wollte, um den Verstorbenen am Grab zu besuchen, schreib er seinen Namen in den Kalender ein, was fast wichtiger war, als der Besuch selbst. Den Freund in seiner Agenda zu wissen, schien ihm als eine Art Fortführung von dem, was er verloren hatte, zwar ein Abklatsch, aber doch besser als nichts.
Hätte er einem Psychiater von seinem inneren Zustand erzählt, er wäre sofort eingeliefert worden: Neben der Musik, die er, einmal dramatisch laut, einmal leiser aber umso beharrlicher, in seinem Kopf hörte, sah er vor seinem inneren Auge einen Goldfisch, der sich munter und mit liebevollen Augen in einem Aquarium hin und her bewegte. Ein Fragment aus der Vergangenheit, das sich in seinem Kopf festsetzte und dort tanzend im Wechsel mit der Musik im Kreis drehte. Die Erinnerung entstammte einem Hotel, wo er mit seinem Freund genächtigt hatte und es ein bewegtes Bild an der Wand gab, das eben diesen Fisch in steter Wiederholung zeigte. Ob Fische auch eitel sein können, fragte ihn sein Freund so nebenher. Was damals unbedeutend war, wurde nun zur Obsession. Die Musik, der Fisch, die Stimme des Freundes in seinem Kopf, die Weinkrämpfe – alles glich einem inneren Erdbeben, einem Tornado, der Landstriche des Wahnsinns streifte.
Zu seiner eigenen Überraschung hatte er nur einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, seinem Freund in die ewigen Jagdgründe zu folgen. Er stand an diesem arbeitsfreien Tag auf, machte die Wohnung ordentlich, das Bett zurecht und entsorgte einige Dinge, die nicht für die Augen anderer bestimmt waren, zuunterst im Müll. Währenddessen bereitete er sich in Gedanken auf die Tat vor, wägte ab, welche Brücke für sein Vorhaben am besten geeignet sei. Als er sich mit dem Tram auf den Weg zu dem Ort machte, wo er sich umzubringen gedachte, war er – innerlich begleitet von Goldfisch und Requiem – fest entschlossen, doch plötzlich knurrte sein Magen und ihm wurde gewahr, dass er Hunger hatte. Wenigstens ein Croissant von der Bäckerei wollte er sich noch genehmigen, danach bliebe noch genug Zeit, sein Vorhaben umzusetzen. Als er das Gebäck jedoch verspeiste, langsam kaute und schluckte, erschien ihm die Aussicht auf den harten Aufprall, der dem Sprung von der Brücke folgen würde, mehr und mehr unangenehm. Zudem hätte diese Reaktion zu seinem Freund, der gerne länger gelebt hätte und nur durch die schwere Krankheit aus dem Leben befördert worden war, nicht gepasst. Wenn er sich jetzt aus dem Staub machte, wäre die Trauer und die Erinnerung erloschen. Überwältigte ihn der Verlust heftig, fand er Trost im Gedanken, dass auch er selbst einmal sterben würde, ein Gefühl der Abgeschlossenheit, das ihn beruhigte und auch davor bewahrte, selbst Hand anzulegen.
Es war in dieser Zeit, als er mit dem Schreiben anfing. Nicht beruflich, wie er es so oder so seit Jahren tat, sondern gewissermassen aus eigenem inneren Antrieb. Nur wenn er schrieb, konnte er sich konzentrieren, einen Fokus setzen und es bildete sich etwas heraus, das abseits der Trauer existierte. Dabei war er aber weit davon entfernt, ins Ordinäre zu kippen, denn hatte er früher mit seinem Freund weinselige Feste veranstaltet, Freunde eingeladen, sich ganz und gar Wohlstand und Hedonismus hingegeben, war er jetzt auf dem Weg, ein vergeistigter, eigenbrötlerischer Schriftsteller zu werden, den schon ein vulgäres Lachen oder eine alltägliche Unterhaltung zutiefst erschüttern und aus der seelischen Balance werfen konnte. Mit einfachen Geselligkeiten und trivialen Dingen gab er sich nicht mehr ab, ja verabscheute sie sogar. Nur noch der Gedanke und das geschriebene Wort zählten für ihn. Er schrieb also. Ganze Tage und Nächte, Wochen und Monate sass er in seinem Kämmerchen vor dem Computer, verbrachte er in der Welt, die er erschaffen hatte. Seine Texte erzählten Geschichten von Freundschaft, Einsamkeit, Tod und Trauer. Während er aber darüber schrieb, vergass er die eigene Trauer, sie wich fast unmerklich von ihm ab, verlagerte sich in seine Texte und verflüchtigte sich dort. Die Monate zogen ins Land und irgendwann hatte er alles aufgeschrieben, es gab zum Verlust, den er erfahren hatte, nichts mehr zu sagen. Der Geist, der ihn seit dem Tod des Freundes stets begleitet hatte, war weg. Erst jetzt spürte er, wie einsam er geworden war. Im festen Entschluss, dies zu ändern, stand er auf, schaltete den Computer aus und verliess die Wohnung.
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