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AutorenbildCaspar Reimer

Rendezvous mit der Vergangenheit

Aktualisiert: 25. Dez. 2021

Neulich im Traum war ich bei der Vergangenheit zu Besuch. Anfänglich war sie keineswegs unsympathisch: Ihre Reize verführten und führten mich in die wohlige Abgeschlossenheit vergangener Tage, aber auch an den Abgrund, den ich überwunden glaubte ­– sie lockte verheissungsvoll und schamlos mit dem, was ich verloren hatte. Dabei missbrauchte sie bestialisch die Erinnerung an verstorbene Freunde, die mir besser gefielen, als sie einst Gegenwart waren. Trotzdem war der Vergangenheit eine ungeheuerliche Sogwirkung eigen: Sie erschien mir in Gestalt eines Landhauses. Bloss vom Sternenlicht im Dunkel fein gezeichnete Konturen der Veranda, ein blasser Schimmer in den Fenstern. Ein Haus, wie man es in amerikanischen Filmen häufig zu zeigen pflegt. Was also für die erste Einstellung eines Gruselfilms getaugt hätte, entpuppte sich als zauberhafte, zugleich erschreckende und sehr reale Begegnung mit dem Geist jener Tage, den ich schon längst fest verschlossen in einer verstaubten Truhe wähnte. Ich näherte mich behutsamen Ganges dem Anwesen. Auf der kleinen, bei jedem Schritt quietschenden Treppe, die auf die Veranda führte, vernahm ich eine Musik, ein altes Seemannslied, das leise aus dem Innern des Hauses durch das Holz in die Nacht wimmerte. Ein schneidender Schauer liess meine Glieder schlottern und ein starker Sog, weich und hart zugleich, zog mich auf die Haustür zu. Als ich bei ihr ankam und vor ihr stand, erschien sie mir als Wesen, das mich in Empfang nahm. Freundlich gesinnt, solange ich mich seinem Willen nicht widersetzen würde. Entschlossen, jedoch zitternder Hand, umfasste ich die Türklinke und als ich sie nach unten drückte, war klar, dass es keine Umkehr gab. Langsam öffnete ich die Tür und orangenes Licht erschien durch den Spalt, der sich vor mir auftat. Ich betrat das Haus.


Ein weiter leerer Raum tat sich vor mir auf. Der Gesang wurde lauter. Eine Melodie von früher, die mich einlullte, ja berauschte und mir wurde gewahr, dass es die Vergangenheit war, der ich hier einen Besuch abstattete. Mein vor zwei Jahren verstorbener Freund schien wieder zum Greifen nah, ich konnte das bis in die Zehenspitzen spüren, es war möglich, was längst abgeschlossen schien. Würde ich ihn Treffen – hier und jetzt? Und wenn ich ihn erst träfe, ja dann –? Ich zitterte. Auf der anderen Seite des Zimmers führten drei Türen zu anderen Räumen, alle leer und doch von etwas erfüllt, was ich noch nicht fassen konnte. Das Licht, das essenziel schien, das Haus atmete, war dem eines Abendrots kurz vor der Dämmerung ähnlich, erinnerte mich an die Zeit, die ich an Sommerabenden mit dem verstorbenen Freund im Garten verbracht hatte. Ich ging zu einer der Türen, die wie alle anderen offenstanden, trat in den Raum, tapste und tastete mich durch ein Labyrinth von Zimmern, die alle gleich aussahen, sich selbst ins Endlose und im Schall der Musik vervielfältigten, Zimmer um Zimmer, Raum um Raum. Die Tage von früher. Und je tiefer ich in dieses Wesen eindrang, das mich in Beschlag genommen hatte, desto vertrauter wurde es mir, desto mehr vernahm ich eine Präsenz, die alles und jedes bis ins kleinste Molekül erfüllte. Ich ging von einem Zimmer zum Nächsten und die Veränderung kam plötzlich, da verspürte ich ein Ziel, etwas Konkretes, ein Ort, wo mich diese Reise hinführen würde. Als ich den nächsten Raum betrat, schien mich etwas zu verlangsamen und ich sah ordentlich längs zur Wand mein altes Sofa und meine alte Stehlampe. Einfach so existierten sie da, als wollten sie mir etwas sagen. Während mich das Sofa in seinen Bann zu ziehen versuchte, denn es war ein Stück konkret gewordener Vergangenheit, irritierte mich dennoch, dass vom Freund, der untrennbar mit diesem Möbelstück verbunden war, jede Spur fehlte, die ganze Szenerie im Grunde und bei nüchterner Betrachtung jede Bedeutung verlor. Einerseits beschlich mich das Gefühl, einer Farce aufzusitzen, andererseits war da die Vergangenheit, sie liess ihre Kräfte weiter walten, führte eine nostalgische Möbelschau vor. Konkret hatte sie aber – ausser einer Wehmut, die beim Anblick des Sofas und beim Hören des Seemannsliedes meinen ganzen Körper durchströmte – nichts zu bieten, trotzdem war sie verführerisch darum bemüht, mich dazu zu bringen, neben ihr Platz zu nehmen. Wohlig sollte ich mich an ihrer Schulter ausweinen, denn ein unerschöpflicher Vorrat an Taschentüchern und Jammerlappen lag bereit. Das würde Jahre reichen. Und mein Leben verstreichen.


Alles, jeder Partikel, jedes Teil, das die Luft und die Materie im Raum bis ins kleinste Detail erfüllte, schien mir zu sagen, ich solle mich setzen, denn hier, im Zauber des Vergangenen sei das Glück versteckt. Und die Vergangenheit, sie braucht mich, das Salz der Tränen, und würde ich mich nicht zu ihr setzen, käme das einem Verrat an meinem alten Freund gleich. Und wie könnte ich mich jetzt, wo er doch so nahe schien, mir vielleicht noch etwas sagen wollte, sich auf das Wiedersehen freute, wie könnte ich mich abwenden, einen Rückzieher machen? Doch an der vorderen Kante des Sofas änderte sich plötzlich etwas, durch die geschwungene Line zeigten sich kleine Zacken, wie Fingerspitzen durch ein Leichentuch, drückten durch die Naht hervor. Messerspitzen, die in meine Richtung zeigten, kalt, hart schneidend. Das war nicht der Freund, auf den ich gewartet hatte, der mich erwarten würde. Ich musste von hier verschwinden. Schleunigst. Plötzlich steifte ein milder Windstoss meinen Rücken, jemand war im Raum erschienen, um mich zu stören, um mich zu befreien. Ich drehte mich um und da stand ein anderer Freund, einer aus der Gegenwart, einer, der lebte und ungeduldig auf seine Uhr schielte: Sein Zug würde bald losfahren und wolle ich mit ihm gehen, müsse ich jetzt kommen. Sofort. Ich aber wollte ihn dazu einladen, noch etwas Zeit im Schosse der Vergangenheit zu verbringen, wir könnten doch zusammen das Lied singen, das er auch kenne. Der Wein ist geschenkt. Doch er, der Freund aus der Gegenwart, schien von meiner weinerlichen Euphorie nicht sonderlich beeindruckt. Es sei jetzt Zeit zu gehen. Jetzt. Nicht später. Ich willigte ein und ging auf ihn zu. Er nahm mich bei der Hand und führte mich zum Ausgang. Bevor ich die Haustür hinter mir schloss, löschte ich das Licht. Und die Musik verstummte.


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