Die beiden Studenten des Konservatoriums Bern betraten kurz vor neun ihre Schule: Liedbegleitung bei Professor Morbut, einem jungen Konzertpianisten, der neu in die Stadt gekommen war, zweite Lektion. Die Premiere am Semesterbeginn war gründlich missraten, zur zeitigen Stunde hatte die Stimme des Sängers matt geklungen, angegriffen, verstaubt, Intonation und Interpretation der Brahmsschen Lieder nach Gedichten von Platens viel zu wünschen gelassen. Sein Kollege, angehender Diplomand im Fach Klavier, hatte seinen Einstand durch zu schroffe Akzentuierung, falsche Agogik und schlechtes Legato verpatzt. Nun hatten sie in der Zwischenzeit zusammen geübt und trauten sich heute mehr zu.
In Zimmer 409 sass ein freundlicher kleiner Herr mit Geige auf einem Hocker und schüttelte bedächtig den Kopf: nein, hier unterrichte nur er selbst, allgemeine Musikschule, und samstags eine Kollegin, Kontrabass. In 309, einen Stock tiefer, platzten sie in eine Händel-Probe, Messias, Chor und Halleluja, die der stadtbekannte Maestro Bieri leitete, und zogen sich enttäuscht zurück. Wie sie wussten, standen alle Unterrichtszeiten samt Zimmernummern am Anschlagbrett im zweiten Stock verzeichnet, aber da lasen sie unter M nur: Müller, Heidi, Querflöte, und Meyerhans Arnold, Werkanalyse. Morbut musste irrtümlich unter die Gastprofessoren geraten sein, ihre Namen waren an der Türe der Administration angeschrieben - doch ausser Wild, Koestler und Nemeth stand nichts mehr da.
Sie klopften und traten ein. Und sahen staunende Mienen: Morbut, Liedbegleitung? Völlig unbekannt. Wie, ein junger Professor? Und schon eine Lektion bei ihm gehabt? Ausgeschlossen. Derschau gebe als Einziger das Fach, nebst Korrepetition, und sei, wie allgemein bekannt, weit über siebzig. Sie hätten sich ordnungsgemäss angemeldet? Es existiere kein Morbut in den Lehrplänen, ob sie sich selbst vergewissern wollten. Vielleicht könne die Direktionssekretärin weiterhelfen. Man wünsche einen schönen Tag.
Die alte Löwin verbat sich die Störung. So einer unterrichte nicht in diesem Hause, man solle sich keinen Blödsinn mit ihr erlauben. Sie habe weissgott genug zu tun den ganzen Tag. Man möge die Semestergebühren pünktlich zahlen und sie in Ruhe lassen.
Sie sassen im Künstlercafé, tranken Tee im Dunst von Rauch und Geplauder und konnten es nicht fassen. Niemand im Lokal hatte je den Namen gehört. Viele lachten über die Geschichte, als halte man sie zum Narren. Aber der letzte, den sie fragten, schob sein Bier von sich weg, schaute sie lange an und fragte: sagt mal, spinnt ihr zwei?
Auf dem Nachhauseweg erwogen sie die Sache. Morbut hiess Forbut oder Sorbut. - Warum nicht gleich Skorbut? - Wohl war er jung, aber doch vielleicht schon gegen 40. - Höchstens 28! - Wir haben nur geträumt. - Denselben Traum? - Nimmst du Drogen oder was? - Jedenfalls gut, dass der arrogante Kerl verschwunden ist! - Was heisst verschwunden, den hats nie gegeben! Und arrogant ist was anderes. Streng war er. Aber korrekt. - Gar nichts war er! Hast doch selbst gesagt: es hat ihn nie gegeben. Also hat die Lektion nie stattgefunden! - Jetzt hör mal, du warst dabei, ich war dabei. - Also nun was? - Tatsachen sind Tatsachen! - Und stritten hin und her, aber einigten sich, am Samstag, kurz vor Schliessung der Schule, die Räume miteinander zu inspizieren. Bei der Heiliggeistkirche trennten sich ihre Wege.
Am Samstag, kurz vor sechs Uhr abends, machten sie sich auf die Suche nach dem Zimmer. Zwei Steinways, das wussten sie noch, hatten darin gestanden, schwarze Steinways, einer gleich rechterhand, der andre hinten am Fenster. Dort hatten sie gespielt, und Morbut war auf einem kleinen samtroten Teppich hin und her gegangen, auf dem auch der Flügel gestanden. Im Eifer seiner Belehrungen noch, temperamentvoll ausholend, hatte er die Enden des Teppichs nicht überschritten, sondern immer im letzten Moment kehrtum gemacht. Sie suchten von unten nach oben, sie verglichen die Namensschilder an den Türen, sie betraten sinnlos selbst die Räume auf der andern Seite des Hauses, wo der Unterricht bestimmt nicht stattgefunden hatte. Aber sie fanden weder Namen noch Ort. Entweder gab es nur einen Flügel oder gar keinen. Oder nicht zwei Steinways, und wenn, einen schwarzen und einen weissen. Am Schluss, zuoberst, öffneten sie Nummer 409. Virtuos, mit gesträubter Mähne, den Blick abgewandt zum Fenster hin, hoch auf einem ergonomisch konstruierten Stuhl, eine Matrone der Körperhaltung, übte die Kontrabassistin mit grossem Bogen die Partitur 'Per questa bella mano' von Mozart. Sie schlossen geräuschlos das Zimmer und gingen nach unten. Vor der Schule trennten sie sich, mit kurzem Blick und einem knapp bemessenen Gruss.
Der Pianist, vom Sekretariat ermahnt, musste zwei versäumte Lektionen bei Derschau nachholen, mit einer Partnerin, die er zwar nicht kannte, mit der zusammen er sich aber eingeschrieben hatte, schwarz auf weiss hatte die Löwin es ihm bewiesen; auch spielten und sangen sie nun nicht Brahms, sondern Schubert, Ausgewählte Lieder, und verwirrt hatte er sich in aller Eile den ersten Band zugelegt und nächtelang geübt. Der andere, stellte sich heraus, hatte sich dummerweise zu gar nichts angemeldet, musste ein Zwischensemester einlegen und hernach zwei Kammermusikkurse zugleich belegen und noch einiges andere nachholen, ein Unterfangen, das ihm nur mit grossem Aufwand glückte.
Gesprochen haben die beiden nicht mehr miteinander. Einmal noch, nach Wochen, ihre Wege kreuzten sich auf der Monbijoubrücke, grüsste der Sänger seinen früheren Kollegen, wie man um Verzeihung bittend einen Gegner grüsst. Doch der Pianist, nicht mehr derselbe Mensch seit dem Tage, übernächtigt und ausgezehrt, blickte ihn durchdringend an und sagte mit fanatischer Geste die Worte: Tatsachen sind Tatsachen! und wandte sich ab.
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