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Daniel Costantino

Nur die Quote zählt

Aktualisiert: 17. Juni 2021

I Populistisches Geschrei


Aufmerksamkeit bekomme derzeit nur populistisches Geschrei, lese ich in einem „Freitext“ von Norbert Niemann. Freitext bezeichnet eine Rubrik der deutschen Zeitung „Die Zeit“, ein „Feld für literarisches Denken“. Nur populistisches Geschrei bekommt also laut Niemann derzeit Aufmerksamkeit. Dem ist schlecht zu widersprechen, wenn auch entgegenzuhalten, dass die Rede der Nichtpopulisten leider auch nur aus Seifenblasen und Ausweichsmanövern besteht. Dies im grossen und ganzen gesehen, aber Niemann bezeichnet das Populistische auch nicht näher und bedient sich einer allgemeinen Vorstellung von Populismus, die über ein Schlagwort nicht hinausreicht.


In deutschen Talkrunden wird über die Populisten mehrheitlich geredet, ohne dass sie dabeisitzen, und wenn, als Einzelfiguren gegen den ganzen Rest. Man fragt sich beiläufig, ob die Regierungsmitglieder und Amtsträger von Regierungsparteien, von denen es meistens ein paar dabeihat, Nichtpopulisten natürlich allesamt, nicht vielleicht Gescheiteres zu tun hätten, als dazusitzen und Seifenblasen abzusondern. Oder ob sie ihre spärliche Freizeit, die sie oft bejammern, nicht lieber mit ihrer allem andern vorangehenden heiligen Familie zubringen möchten. Nein? Dann gehört Seifenblasen machen zu ihrem Pflichtenheft, wie man so sagt, und jede Partei hat ihre eigenen Seifenblasenleutchen und -leuchtchen, die sie immer wieder hinschickt, manchmal direkt aus Koaliltionsverhandlungen und andern bis in die Morgenstunden dauernden Gipfelgesprächen. Vernebelung aus erster Hand sozusagen.


Aber gegen die Seifenblasen richtet sich die Kritik Niemanns nicht. Es ist überhaupt ein erstaunlich wenig kritischer Text von einem, der wiederholt ein Nachdenken der kritischen Intelligenz fordert und sich selbst dazu zählt. Man würde etwas weniger pauschale und fast beliebig brauchbare Begriffe erwarten und eine Kritik auch auf die Regierenden gemünzt. Vielleicht könnte man so der von Niemann abgelehnten „neoliberalen Irrlehre“ als wie einem Gegner tiefer ins Auge blicken. So aber bleibt auch sie ein Schlagwort, dem man umso herzhafter beipflichten darf, je weniger man davon versteht.


II Die linke Erzählung


Niemann verwendet diesen Begriff mehrmals. Er erscheint flapsig, ironisch untertönt, als wüsste, wer ihn im Munde führt, um die Vergeblichkeit eines nicht sonderlich ernst gemeinten revolutionären Bemühens. Nichts davon räumt Niemann aus oder rückt er gerade, sondern er steht dieser Interpretation geradezu Spalier. Es gibt also eine linke Erzählung, und zwar „längst“, hört hört! Was jetzt noch kommen kann, muss das Rotkäppchen sein.


Und Niemann will das Nachdenken zusammentragen, aufsammeln eins ums andere. Es findet es so sehr im „Lärmteppich des medialen Tagesgeschäfts verstreut.“ Er schreibt, kritisches Denken bedürfe der Unterstützung durch einen Kulturjournalismus, der das Verstreute zusammendenke und das Nachdenken konturierend begleite. Mir fällt dazu der Beruf eines Gruppenreiseführers für spezielle Klienten ein. Ich jedenfalls warte auf so ein konturierendes Journalismüschen nicht.


Und jetzt kommen Sätze, die des konturierenden Lesers bedürfen, um so verstanden zu werden, wie sie wohl gemeint sind. Warum ausgerechnet die undogmatische, kritisch-reflektierende Diskussion nicht gebracht wird? fragt der Autor. Das ist eine Frage, die sich schon Karl Kraus, dessen Name irgendwann fällt, vor hundert Jahren nicht mehr gestellt hat. Sie kann entweder nur rhetorisch gemeint sein oder der Autor ist ignorant. Und wer erwartet von Merkel, von irgendeinem Regierungschef, glaubhafte Reden zu einer Idee von Europa? Zu einem europäischen Idealismus? Was will Niemann da Türen einrennen, wo nur offene Steppe ist? Die kritische Vernunft und journalistischer Ethos haben immer ein Dasein in der Wüste gefristet. Niemann tut, als hätte es sie mitten im pulsierenden Leben gegeben und wären sie dann im neumodischen medialen Getöse etwas verlorengegangen. Das ist Mythologie.


III Abgleiten in Barbarei


Es zeigt sich immer mehr, dass Niemanns Kritik ziemlich parasitären Positionen entspricht. Seine Analyse kommt um hundert Jahre zu spät. Sie kann nicht eigenem Nachdenken entsprechen, lehnt sich bloss an Wohlbekanntes und -verdautes an. Sie ist linker Mainstream und viel zu pauschal. Absatz und Quote seien, sagt Niemann, als posaunte er erstaunliche Neuigkeiten heraus, ausschlaggebend für die Verbreitung von Haltungen, Meinungen und Bewertungen. Ich bin versucht hinzuzufügen: und von Sandwiches. Was soll Verbreitung von Haltungen heissen? Aber ja, natürlich hat er recht. Auch wenn er garnichts sagt.

So haben sich laut Niemann Absatz und Quote längst „erzieherisch prägend“ auf die Strukturen des Denkens ausgewirkt. Der Jungen zumal, sagt er. Und dann beginnt er mit der Nazikeule zu fuchteln, angefangen mit der „Gefahr struktureller Propaganda“. Seine Zielgruppe wird ihn lieben dafür. Ein kuscheliges linkes Eckchen, das ihr da bereitet wird.

Dann ein Abschnitt über die Geschichtsvergessenheit. Ich erwarte Thomas Mann, aber er präsentiert Heinrich. Immerhin. Man sollte sich da jetzt reinschmeissen, um einen seriösen Kritiker des Kritikers abzugeben, kennt sowieso viel zu wenig. Ob man damit am Ende mehr täte als Niemann selbst? Unrat und der Untertan sind lange her. Und Roths Radetzkymarsch, den Niemann ausserdem als das Werk eines „bedeutenden Denkers und Dichters“ erwähnt, seh ich anders. Falls ich mich jetzt tatsächlich hinter die Genies aus der Zeit der Weimarer Republik machte, ich täts mit der Furcht, dass ich kaum fände, was Niemann beschwört:


> Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung haben mich ihre Positionen und Thesen zum gesellschaftlichen Stand der Dinge, die kritischen Analysen, ihr Kampf mit Worten wieder vermehrt beschäftigt – nicht zuletzt die Frage, warum dieser Kampf gegen eine politische Dynamik, die dazu führte, dass Hitler und die Nazis die Macht an sich rissen, gescheitert ist, und ob sich daraus etwas lernen ließe. <


Ein strukturelles Denken wie aus dem Lexikon bezogen. Niemann redet von Positionen und Thesen und dem damaligen Stand der Dinge. Seine einzige eigene Leistung ist die Umkehr des Doppelbegriffs Dichter und Denker in Denker und Dichter.


IV Deutschstunde


Eine gewisse Kehrtwende setzt ein, sie tut dem Artikel gut. Niemann beschreibt seinen eigenen Lernprozess im Umgang mit Heinrich Mann. Er gibt den Deutschlehrer nicht schlecht. Aber kann die Behauptung, der Deutschunterricht sei heutzutage literaturfrei, noch als polemische Zuspitzung gedacht werden, ist sie nicht einfach falsch? Man müsste einen Blick auf eine deutsche Liste der Maturitätslektüre werfen. Die schweizerische jedenfalls strotzt von Literatur.

Ich glaube nicht wie Niemann, dass Literatur ein Erkenntnismedium sei. Es wären sowieso bloss Erkenntnisse aus zweiter Hand. Literatur als Wahrnehmungskorrektiv? Ach, diese wohlfeilen Wortklötze! Niemanns Stern ist wieder am Sinken.

Ich kann mir vorstellen, dass die Texte Manns und Döblins, die Niemann auch erwähnt, dem Verständnis heutiger Zustände dienlich sein können. Aber nicht wegen Wahrnehmungskorrektiv und Erkenntnismedium. Die Verlebendigung menschlichen Verhaltens ist das Entscheidende, die glaubhaften Charaktere der Literatur.

Niemann erscheint mir ein bisschen doppelt. Einerseits plappert er mir zuviel nach, andrerseits versteht er es, eine Lektüre überaus lohnend erscheinen zu lassen. Ich fresse ihm da fast aus der Hand.

Niemann bezieht sich in seinem Artikel auch auf einen anderen seines Kollegen Ebmeyer und findet ihn klug und differenziert. Werfen wir noch einen Blick darauf und damit noch einmal auf die linke Erzählung, die Ebmeyers Text schon im Titel führt.


V Linke Erzählung verzweifelt gesucht


Dieser Artikel ist nun ganz schlecht, keine Spur von Differenzierung, die Sprache bemüht neutönerisch und effekthascherisch. Es fällt schwer, die Konturen im Auge zu behalten. Wohin zielt dieses Denken? Ist es überhaupt ein Denken? Wahrscheinlich zielt es einfach irgendwohin, zufällig und von ungefähr. Hauptsache, Jargon, so gehörste dazu. Der Bezug auf Sarrazin peinlich. So ernst, dass er die Abschaffung Deutschlands in wenigen Jahren erwartet hätte, hat selbst Sarrazin seine These nicht gemeint. Mir kommt der Artikel wie albernes Geschwätz vor. Es ist die Rede von grimmigen Zahnärzten und antiautoritären Philosophinnen, die sich auf ein Wort Rüdiger Safranskis straks zur Realität bekehren. Von grossintellektuellen Organen, gemeint sind Hirne, und von Kreativen, die aus Sozialneid „hohldrehen“. Einerseits macht der Autor sprachkritische Bemerkungen, andrerseits braucht und fabriziert er selber schlechte Metaphern. Er verfällt, wie auch sein Kollege mit dem Populismus, demselben Laster, das er anprangert. Wo steht ihm der Kopf? Dass er, im Job und im Privaten, im Freundeskreis und in der Familie, ja wo er steht und geht für Menschenrechte und Minderheiten eintreten will, schmeckt mir doch arg nach Anbiederei. Mehr als einen Feldzug gegen die Mohrenkopfsprecher trau ich ihm nicht zu.


Niemanns Tip ist eine Niete und diese ganze Freitexterei uninteressant.




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