Unkanonische Betrachtungen zu Schubertliedern
Teil 2
Ruhn in Frieden alle Seelen, Die vollbracht ein banges Quälen, Die vollendet süßen Traum, Lebenssatt, geboren kaum, Aus der Welt hinüberschieden: Alle Seelen ruhn in Frieden!
Liebevoller Mädchen Seelen Deren Tränen nicht zu zählen, Die ein falscher Freund verließ, Und die blinde Welt verstieß; Alle, die von hinnen schieden, Alle Seelen ruhn in Frieden!
Und die nie der Sonne lachten, Unterm Mond auf Dornen wachten, Gott, im reinen Himmelslicht, Einst zu sehn von Angesicht: Alle, die von hinnen schieden, Alle Seelen ruhn in Frieden!
Der Reimer heisst Johann Georg Jacobi. Nicht bloss ich, auch Goethe mäkelt an dessen Gedichten herum und schreibt ihren Erfolg „den Frauenzimmern zu, die ein Gedicht schön finden und denken dabei bloss an die Empfindungen, an die Worte, an die Verse. Dass aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloss durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln.“
Der Künstler kann aus einem Nichts seine Kunst formen, der Dilettant verleugnet und vernichtet fortlaufend das Substantielle und Wesentliche, das sich ihm etwa in den Weg zu stellen droht. Man muss Schubert als einen Komponisten sehen, der sich auf alles gestürzt hat, selbst das Kläglichste an Literatur, dessen er habhaft werden konnte. Dem alles recht war, jeder Reiz Anlass, seine grosse Kunst daran zu üben. Wäre ich Komponist, es fiele mir durchaus schwer, selbst in der heutigen Zeit, an 600 gute deutsche Gedichte zu kommen.
Was an eingeschobenen Dominantseptakkorden, an leitereigener Harmonie, chromatischen Basslinien, an Melodieführung, spektakulären Quartsextballungen, Mollsepten, organischer Verzierung geleistet wird, was an rhythmischen Wechseln, an Crescendi, an dynamischen Elementen hinzukommt, was alleine die Coda für eine Verzauberung bewirkt – es findet im Gedicht keine dichterische Entsprechung. Hier finden wir Floskeln, windelweiche Wellness- und Wohlfühloase, um es modern auszudrücken, geistloses Gewäsch. Ein banges Quälen vollbringen, ach herrjemineh! Und ohne Atempause dann gleich das Leben als süssen Traum hingestellt, was für ein Hokuspokus! Die ungezählten Tränen, eine blinde Welt, die Dornen unterm Mond, die ganze religiöse, frömmlerische, krückenkranke Aufrichtung, es ist ein Graus. Das Beste an den Strophen ist, dass Schubert die meisten weggelassen hat, die Gedicht genannte Beschämung böte noch einige dummdreiste Verknullerungen mehr.
Hier die Negierung der Werte, da eine Komposition, die Werte schafft. Jacobis Litanei war Schubert nur Vorwand dazu.
Dichter und Komponist arbeiten nicht mit denselben Mitteln, selbstverständlich. Es besteht aber hier wie da ein Markt, ein Konsum, ein Umschlag von Massenware, teils eitlem Zierrat, billig zu haben, billig zu halten, grad so wie Volkes Ohr und Mund die platteste Konversation, teils von fast pharmazeutischen Produkten, die wie Tranquilizer den Alltag erträglich machen und bewirken, dass nichts Bewegendes, Aufwühlendes, nichts Schönes und nichts Schlimmes und überhaupt nichts mehr geschehen kann - dämpfende, schützende, das richtige Lachen und das richtige Weinen dosierende Rezepturen. Ein Handeln und Bandeln mit Gefühlskleister, aufzutragen und einzureiben wie heilende Kräutersalbe, in der Schafswolle gefärbte Strickereien und Muster, die auf das Heimatlich-Bekannte spekulieren und für Kunst gehalten werden, wie man ein Symbol für die Sache selbst hält und die Sache selbst für das Symbol.
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