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Kim de L’Horizon

Blutbuch

Deutscher Buchpreis 2022; ebenso Schweizer Buchpreis


Das Beglückende vorweg: das Blutbuch hat grossartige Passagen. De l’Horizon ist ein Poet und Sprachkünstler. Einiges Schwächere, manchmal, vorallem anfangs, auch Peinlichkeiten, sei als Lappalie abgetan. Die lange Entstehungszeit wird ein paar Spuren hinterlassen haben. Das Blutbuch ist ein Erstling.

Das Starke kommt immer wieder zurück, ein Spiel mit der Sprache und einer wunderbaren Metaphorik, die alles wieder einfängt, streichelt, von dannen schleudert, das Drama, das Thema, die Welt. Diese Komposition, dieses geistreiche Werk, inhaltlich und stilistisch aus verschiedenen Fäden gesponnen, ist etwas vom Lebendigsten, was ich von der Gegenwartsliteratur kenne.


Wie zum Beispiel, Seite 34, die Darstellung des Strickens, seine Erfindung und Inszenierung, Symbol wird und Figur und doch immer auch noch Stricken bleibt. Dass noch ein Nachdenken über Sprache zum Stricken gehört, über den Geist, den wir in uns tragen und zum Text erwecken. Die weite Metapher, die nicht den kleinen Vergleich, sondern die weite Übertragung zustande bringt, wie das Gestrickte ein ganzes Gewebe von Sprache, Sätzen und Motiven. Der Protagonist erinnert sich an seine Grossmutter, das ganze Buch richtet er an sie:


> Als ich nun deine Hände wieder sah, Grossmeer, wie sie die Himbeeren pflückten, wie sie „flink über die Stauden krabbelten″, sah ich deine Hände auch wieder beim Stricken, deine Zeige-, Mittelfinger und Daumen; diese ratternde, klappernde, klackernde Textilmaschine, die sich rastlos um sich selber dreht, aus losen Fäden feste Gewebe hervorzaubert; diese Maschine, die wie ein von deinem Körper losgelöster Körper Fäden knüpft, die wie das Maulwerkeug einer Spinne arbeitet; eine Spinne, die ihre Fäden zu einem engen Kokon um ihre Opfer spinnt, bevor sie dieses aussaugt. Wobei – nein, falsch, die Spinnen spinnen ihre Fäden doch mit ihrem Hinterteil, das Bild, das mir da gekommen ist, ist also schief. Oder hat es doch seine Berechtigung, waren deine Strickhände nicht tatsächlich ein zweiter, eigenständiger Körper, der gleichzeitig Maul und Hinterteil war, der gleichzeitig gefressen und produziert hat, während du die Tagesschau schautest, während du mich beobachtetest, während du mir dieses verbotest, jenes befahlst? <


Diese Buchpreisidioten, hatte ich nach dem verpatzten Prolog noch gedacht, bevor ich solche Stellen zu lesen bekam, die fürchterlichste Prosa loben sie hinauf, weil ein Autor sich Dinge getraut, die sie ihren eigenen Kindern verböten, und kommen sich weissnicht wie angesagt vor. Exorbitantes wie „meine unendliche Lust, diesen Ohrenring anzuziehen, meine unsägliche innere Stimme, die mir das verbot, meinen unendlichen Wunsch, einen Körper zu haben, Mutters unbändigen Wunsch, durch die Welt zu reisen“ will bewältigt sein, das ,Versinken im Wattenmeer der Vergangenheit’ nicht weniger. Nur auf Stelzen sind die ersten Cruisingszenen zu schaffen: „Samen noch in und Geruch von fremdem Mann an mir″. Das „leere Gefühl in meiner Mitte″. Der Protagonist geht aufs Klo, um den restlichen Samen aus sich zu „entlassen″. Derartige Stolpereien. „Und wenn ich nicht schreibe“, vierte Seite im Text, zwölfte im Buch, „dann lese ich oder denke an die Möglichkeit, meinen Körper auf den Jakobsweg zu geben, ich denke an die Möglichkeit, zu gehen, bis ich an nichts mehr denke oder nach Santiago de Compostela gelange oder ans Meer, und ich denke an die Möglichkeit, das alles nicht zu tun.“


Man denkt an die Möglichkeit, nicht weiterzulesen. Aber nach und nach wird alles anders, verflüchtigt sich das Holprige, Unbedarfte, die Sprache wird dicht, virtuos, komplex, es entwickelt sich eine Partitur, die es in sich hat, aus Schatten steigen Fantasmen, das Denken fliesst ins Empfinden und aus chaotischer Innenwelt strömt Reflexion, das Unmittelbare in die Sprache und die Sprache ins Fantastische. Reich wird man fürs Durchhalten belohnt. Über Peer, den Vater, heisst es:


> Peer studiert die Geschichte von Meer Erde. Er steckt so tief in ihren Gesteinsschichten. Manchmal kommt er tagelang nicht heraus. Der Peer hat dann sieben Häute. Die erste Haut ist aus totem Hirsch. Die zweite aus Schweigen. Die dritte Haut aus Granit. Die vierte aus Schwere. Die fünfte Haut ist Kindheit. Die sechste aus Gottesangst. Die siebte Haut ist aus einer Zartheit. Die Zartheit ist die Zartheit eines Edelweissblütenpelzchens.

Manchmal sitzen Meer Peer Kind beim Essen. Manchmal fragt Meer den Peer etwas. „Wie war dein Tag?″ Bis die Frage zu Peer durchgedrungen ist. Durch die sieben Häute gesickert ist. Hat die Meer schon den Abwasch gemacht. Das Kind zu Bett gebracht. Raucht im Garten eine Zigarette. „Mein Tag war gut.″ Sagt der Peer der Küche. <


Der erwachsene Protagonist eine non-binäre Person voller Lebensgier, verstrickt in die Sexsucht, Übermacho, Überschlampe, die exzessiven Sexszenen gelingen vortrefflich, wie mancher Autor hat sich dabei schon lächerlich gemacht. Die definierten und auch die noch namenlosen Wesen der Persönlichkeit, die er ist oder wird oder imaginiert, den Altvordern, den Vorfahrinnen entsprossen, eine Spurensuche zurück ins Mittelalter, das Buch ist eine Frauenemanzipation. Der Kick und der Alltag, Dressur und Langeweile, Befreiung und Autofaschismus, das Klischee und seine Entlarvung, die Pornografie tief in der Brust, der Seele zweite Geige. Florentinische Hurenbiografien und die wunderliche Erforschung der Blutbuche. Familiengeschichte, Gesellschaftsroman, Matriarchat en détail, Mystifizierung und Lebenskampf, die Trostlosigkeit einer Pflegestation. Es ist schön alles mitsammen verwoben. De l’Horizon kreiert lyrische Prosa, aber auch Kindersprache, schreibt Brief und Essay, Standortbestimmungen, die ab und zu an die müffeligen Reflexionen Frischs erinnern, und authentisches Bernerhochdeutsch.


„Ich durchbreche den Kreis der Kinder, die ihre Eltern umbringen, um frei zu sein, um sich selbst zu werden. Ich töte meine Eltern nicht. Ich bringe meine Mütter zur Welt.″


Das ist das unorthodoxe und klug durchdachte Programm. Wo die Sprache eigenständig ist, ist sie unwiderstehlich, wo sie von Angelesenem abhängt, wirkt sie zuweilen altklug und steril. Trotz diversen Flausen und esoterischen Einlagen ein befreiendes und zutiefst menschliches Buch.


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