Jeder, heisst es, ist sich selbst der Nächste.
Der Forsche, der mit dem Motto seine Tatkraft bekundet und seine Handlungen rechtfertigt; der Menschenfreund, dem das Wort alle Selbstlosigkeit als eine Chimäre enthüllt, mit resignierter Attitüde hebt er die Schulter und blickt zur Decke; der Werbefritze, dem der Gemeinplatz gerade recht, eine neue Phrase zu drechseln und seine Bauernfängereien zu betreiben.
Jeder ist sich selbst der Nächste.
Man könnte die Wendung auch der Erfahrung einer strikten Trennung von Innen- und Aussenwelt abgewinnen, die nur ein Glücklicher in kurzen Phasen des Liebesrauschs durchbricht; der Mensch gefangen in sich selbst liebt nicht den Nächsten, sondern den Unerreichbaren.
Aber wenn man sich gelegentlich mit Nachnamen vorzustellen hat, gestatten - wer soll das sein, der Costantino? Klingt italienisch, jaja, und dem Gegenüber vermengt sich der Eindruck, den er vom Namen gewinnt, mit der Person, die vor ihm steht, eine kaum greifbare Nuance kommt hinzu, doch bestimmt eine andere, als wenn sich Costantino mit Abgottspon vorstellte oder mit Lenormand und damit etwas von seiner Ausstrahlung preisgäbe und etwas anderes hinzugewänne und sich, wie ihm eben aus Abgottspon oder Lenormand ein Plus oder ein Minus erwüchse, seine kleine Welt veränderte. Aber er bleibt beim Costantino und das Gegenüber zeigt Haltung und grüsst zurück, und in dieser Haltung liegt etwas, das ihn den Namen ernster nehmen lässt, als ihn sein Träger nimmt. Der wiederum, gespannt, was ihm Knigge als nächstes soufflieren und er infolgedessen gleich sagen wird, steht in einer solchen Szene etwas weiter von sich weg als gewöhnlich, wenn er sich im stillen Kämmerlein die Grillen vertreibt; und doch erkennt er intuitiv, wie ihn der Andere einschätzt, und wird es in seiner Antwort erwidern oder übergehen.
Wie immer man sich verändert, man bleibt sich selber so und so. Ein Interpret seiner selbst im kontinuierlichen Rollenstudium. Wer sich zu sehr festlegt, bleibt in sich stecken und langweilt seine Mitmenschen. Ein Schausteller in eigener Sache, der mal in hohen, mal in dezenten Tönen herzeigt, was er zu bieten hat. Zum Billigen Jakob sollte keiner herabsinken, doch für mancherlei Gebrauch übe man den grossen Zampano, etwa in Selbstgesprächen, sogar in Selbstdialogen, wo man ihm einen pragmatischen Gegenspieler beigeselle, der sich dadurch auch in Schuss halten lässt. Ob man ihn duzt oder siezt - nichts Befremdliches liegt darin, alles Variationen über das eigene Ich.
Mögen die andern von Costantino halten, was sie wollen. Er könnte auch unter Abgottspon laufen und würde nicht in den Abgottspon passen.
Eine Schweizer Bank fängt jetzt an, ihre Kunden zu duzen. Mein Instinkt, vielleicht mein Allernächstes, regt sich und wehrt sich. Und das Gedächtnis, der alte Freund und Kupferstecher, vermeldet, es sei zwar immer fürs Duzen gewesen, das Siezen sei ihm von jung auf lächerlich vorgekommen, und nicht nur lächerlich, auch traurig, denn Mensch sei schliesslich Mensch; aber es habe das anders gemeint. Derweil nun ich für mich selber auf einmal auch nicht mehr fürs Duzen bin und merkwürdigerweise darin vollkommen mit mir überinstimme. Ich überlege warum und sehe Angestellte am Bankschalter vor mir, viel näher und klarer als in der Wirklichkeit, junge Krawattengesichter mit roten Wangen und tadellosen Manieren. Das hat sich bei mir so eingegerbt, ich sehe keine Schalterfrauen. Die wären auch viel zu robust und gepanzert und hätten mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Aber sie wären mir immer noch näher als etwa Bankmitarbeitende, geschlechts- und wesenlose Partizippräsenzen, ich sehe da einfach garnichts mehr.
Aber Klammer zu.
Jeder ist sich selbst der Nächste. Es sei denn, er hätte den Kontakt zu sich verloren. Er könnte sich nicht einmal mehr doubeln. Er müsste sich geben, wie ich es neulich bei einem jungen Pärchen gesehen habe. Mir schien, die hielten einander nicht fest wie Glückselige, sondern gespreizt wie Vertragspartner. Unten am Fluss war es, am schönsten Herbsttag. Sie setzten sich auf eine Bank und warfen den Enten Brot zu. Mit knappen, streng abgemessenen Bewegungen. Hier ein Soll, und da ein Haben. Doch die Enten verschmähten indigniert die Gabe.
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