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AutorenbildCaspar Reimer

Ich lebe, weil ich hasse

Es gab Tage, da war er der Leute bis auf den letzten Zahn überdrüssig, verachtete, ja verabscheute er deren immergleiches Geschwätz, den infantilen Bockgesang, das dümmliche Gehabe, die ganze Kumpanei und den Herdentrieb dazu. Am schlimmsten waren die jungen Weiber, wenn sie im Tram kreischten, lachten, gackerten wie die Hühner, Abziehgirls belämmerter TikTok-Videos, als ob es auf der Welt keine Ernsthaftigkeit, als ob es auch nur einen klitzekleinen, einen Wimpernschlag eines Grundes gäbe, sich an irgendetwas zu erfreuen, er wünschte sich sogar, die Welt möge untergehen, die ganze kreischende Bagage in den Abgrund reissen oder noch besser: Ins Weltall katapultieren!


Und die finstere Literatur, die er las und mit der er seine Seele tränkte, welche die Menschheit von ihrer schlimmsten Seite vorführte, Literatur, nach der Auschwitz nichts Ausserordentliches, sondern eine im Menschen angelegte Selbstverständlichkeit war, die Gaskammer im Handgepäck sozusagen, eine willenlose Masse blökender Schafe, sie nährte seinen Hass, schärfte den Blick für die Verkommenheit der Menschen, die dasassen, ohne Hirn, vollkommen verblödet am Tropf ihres Mobiltelefons. Besonders bockig stiess er jenen vor den Kopf, die es wagten, ihm mit Freundlichkeit auf den Nerv zu treten, Infantilsten, die noch nicht begriffen hatten, das es auf dieser Welt nichts zu lachen gab, strafte er mit bösem Blick, spritze mit Gift, Galle und Fäkalien. Freundlichkeit und Munterkeit. Ein Schlag in den Bauch.


Er war ein Misanthrop geworden, das stand ausser Frage. Hätte er sich früher, als er noch Phasen dümmlicher Hoffnung erlebte, sich sogar nach einer Liebesbeziehung sehnte, für seine Bösartigkeit geschämt, zehrte er jetzt die ganze Lebenskraft aus dem Hass, den er für die Leute, die Zivilisation, ja überhaupt das ganze Tamtam empfand: Die Mitgliedschaft in einem Chor hatte er nur deshalb nicht gekündigt, weil er einen Kitzel dabei empfand, wenn die Dirigentin unzufrieden, die Stimmung im Keller war, und jedem das Lachen verging. Dann fühlte er sich auf eine Weise verbunden mit ihr: Sie wollte Musik, keine Menschen. In der Pause dagegen, wenn die Leute gackerten, versteckte er sich auf der Toilette.


Seine Stimmung kippte allerdings schlagartig von Hass in Verzweiflung, sobald er ein Kind im Tram weinen oder schreien hörte, er fühlte sich dem Balg im Herzen nah, spürte, wie etwas seine Brust klemmte. Da sei ein Kind in ihm, das noch Freude empfinden könne. Das hatte ihm eine Psychotante einmal vorgegackert, damals, als er es noch für nötig hielt, einen Psychiater aufzusuchen. Doch für ihn sah die Sachlage ganz anders aus: Was blieb dem armen Kind in der eklatanten Bedrängnis anderes übrig, als angesichts dessen, dass ihm ein leidvoller Weg in einer grässlichen Welt bevorsteht, in Furcht und Angst zu schreien. Restlos, laut, so lange es noch geht. Ein herzzerreissendes Aufbäumen, bevor das Schicksal, ja das Leben zuschlägt. Diesen kleinen Menschen fühlte er sich verbunden und das half ihm, sich von den Spitzen seines glühenden Hasses ein kleines bisschen zu erholen. Manchmal verspürte er sogar Ruhe, wenn ein süsslicher Geruch sich im Tram verbreitete. Er kam vom Baby, dass vor lauter Schreien in die Windeln geschissen hatte.



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