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AutorenbildCaspar Reimer

Grenzgänger. Der Anfang einer Geschichte.

Es ist ein wiederkehrendes Schauspiel, das er von seiner alten Sitzbank aus, mit einem Notizblock in der einen, einem Kugelschreiber in der anderen feingliedrigen Hand, an einem abschüssigen Ort seitlich des Bahnhofs, beobachtet. Von seinem Platz hat er, obwohl dieser nicht in der vordersten Reihe liegt, eine gute Sicht auf die Bühne und die Menschen, die sie bespielen. Dieser Platz, eigentlich nichts weiter als eine freie, mit Asphalt gepflasterte Fläche, schnörkellos zwischen einer Unterführung, die zu den Geleisen führt und dem Zebrastreifen über eine Zufahrtsstrasse zur Stadt, dieser ­– wenn man so will – Abschnitt der Welt, ist ihm über die vergangenen Tage vertraut und lieb geworden. Er ist seine neue Wirkungsstätte, sein Terrain und die Deutungshoheit über das, was sich hier, auf seiner Bühne, immer und immer wieder abspielt, obliegt ganz alleine ihm. Das denkt er so bei sich, leicht erhaben in sich hinein lächelnd. Er geht einer aussergewöhnlichen, durchaus einsamen, nicht an fixe Zeiten oder irgendwelche Strukturen gebundenen Beschäftigung nach: Seit er seinen Job aufgegeben, einen Schlussstrich unter die Existenz als Lohnempfänger gezogen hatte, sitzt er hier, schaut zu und schreibt auf, was ihm dabei durch den Kopf geht. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ihn die Polizei noch nicht vertrieben hat – aber das ist ein anderes Thema. Das Schauspiel gleicht für jenen, der es nur in groben Zügen überblickt, quasi als flüchtigen Gedanken aufschnappt, den Gezeiten des Meeres. Ihm, dem keine Termine im Weg stehen, die Zeit zu Füssen liegt, der gewissermassen in einem Meer aus purem Dasein schwimmt, erschliessen sich Dinge, auf die man nicht einfach so kommt. Es sind die Schauspieler, die der Bühne ihren Stempel aufdrücken, den Geist der Szenerie bestimmen: Wenn der Bahnhof, kaum der Tag richtig angebrochen, die kargen Spitzen der Bäume im kleinen Bahnhofspark gerade von den ersten Sonnenstrahlen, die sich wie Fäden um die dünnen Äste wickeln, beleuchtet, der letzte Schlafwandler eben nachhause getorkelt, eine Horde hetzender Zombies ausspuckt, von sich selbst verlassen wie Irre, die sich fast gegenseitig zertrampeln, dann bleibt er auf seiner Bank, schaut zu und schreibt. Bei seinen Beobachtungen hat er zunächst einen Unterschied in der Temperierung nach Altersklassen festgestellt: Die Jugendlichen nehmen zwar an der Szenerie teil, eilen schnellstens aus dem Bahnhof heraus oder in den Bahnhof hinein, als ob ihnen ein frühes Lebensende auf den Fersen wäre, stellen sich dabei aber - verbarrikadiert oder vielleicht auch geschützt in der Welt ihres Smartphones - entweder tot, nehmen also teilnahmslos teil oder quatschen mit Gleichalterigen, als wären sie sich der Ernsthaftigkeit dessen, was sich um sie herum abspielt, nicht bewusst, als hätten sie kein Ziel vor Augen, keine Geistesrichtung, die es zu gehen gilt. Im Gleichschritt mit den losbrechenden Werktagen befinden sich Menschen, die er so dreissig, vierzig, vielleicht noch fünfzig schätzt: Sie uniformieren die Szene mit Kostümen, denen etwas Repräsentatives anhaftet, sie scheinen sich – so könnte man es vielleicht ausdrücken – auf dem Höhepunkt von irgendetwas zu befinden. Überhaupt wirkt das Ganze auf ihn so, als gäbe es zwei Welten: Eine übersehene, obwohl sie eigentlich immer da ist, immer schon war, die mit oder in den Tag hineinlebt, ähnlich einer Katze, die jeweils und noch immer am selben Ort hockt, an dem sie schon Stunden zuvor gesessen hatte, eine Welt, in der nicht viel mehr passiert als das, was eben gerade so kommt. Und eine andere, die er gut kennt, in der die Zeit immer zu knapp bemessen scheint, eine Welt, in der jener abschüssig ist, der viel Zeit hat, eine Welt als Motor, als Getriebe, stets gepiesackt von der Furcht, stehenzubleiben –

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