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AutorenbildCaspar Reimer

Gewissensbisse eines Geimpften

Gestern bekam ich Besuch eines Ungeimpften. Schon unzählige Male hatte er das in den Jahren unserer Freundschaft getan, doch dieses Mal war etwas anders, da war eine unsichtbare Wand, die uns trennte. Ich erzählte vom hervorragenden Essen, das ich am Wochenende im Restaurant genossen hatte, bemerkte nebenbei, nach seinem Besuch saunieren zu gehen, um erst nach meinem leichtfertigen Geplauder zu realisieren, dass er von der Teilhabe an diesen Dingen ausgeschlossen war, wenigstens vorläufig. Dieses Gefühl der Distanz kam keineswegs sofort, sondern erst im Laufe und besonders im Nachgang seines Besuchs. Damit hätte ich nicht gerechnet und war überrascht von den Gewissensbissen, die noch Stunden später an mir nagten. Er macht sich das Leben selbst schwer, könnte man einwenden. Der Grund, warum er sich keine Nadel in den Oberarm stechen lässt, ist schlicht und einfach sein Stolz – er würde nicht ein Leben lang für seine Freiheit kämpfen, um nun diesem Zwang nachzugeben, schrieb er mir noch vor der Zeit mit Zertifikationspflicht. Und jetzt, wo der Druck auf Ungeimpfte steigt, will er partout und erst recht: nicht. Es ist eine Entscheidung, die auf seiner Biografie beruht, denn er hatte sich immer alleine durchgekämpft, war bei seiner Mutter, die sich nicht für ihn interessierte, weggezogen, als er noch grün hinter den Ohren war, er stand auf der Strasse. Der Wille, nicht in der Gosse zu landen, es allen, die ihn unterschätzt ­­­oder gehänselt hatten, zu zeigen, dieser Wille entwickelte sich bei ihm ins Ungeheuerliche, ja fast Beängstigende. Heute ist er Millionär. Und er zählt noch keine 30. In seinem Leben blieb bisher kein Raum für politisches oder soziales Bewusstsein ­– woher auch? Einzig die einsame Geschichte, es sinnbildlich vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht zu haben, zählt. Dahinter verbirgt sich im Grunde nichts Heroisches, sondern ein Kampf ums Überleben. Warum sollte er sich jetzt um ein Virus scheren, das ihn selbst nicht betrifft? Man mag diese Haltung ablehnen ­– auch ich wünschte mir für ihn mehr Geist als Geld, denn wirklich frei ist er in der Obsession nach Ruhm und Anerkennung gewiss nicht ­– trotzdem entspringt sie seiner Erfahrung. Es ist seine Geschichte, die ihm das Impfen verwehrt. Ich erzähle dies, weil mich sein Besuch dazu gebracht hat, darüber nachzudenken, wo wir eigentlich stehen. Es liegt nahe, sich hinter Extremen oder Zuschreibungen zu verstecken – gewählt je nach Sichtweise oder politischem, ideologischem Hintergrund. In gebildeten Kreisen, insbesondere in den Reihen der Linken, wird gerne mit einem gewissen Hochmut über Impfgegner als kleinbürgerliche Egoisten gesprochen, Vollpfosten, die Zusammenhänge nicht erkennen, sich politisch höchstens im Affekt äussern, wenn der eigene kleine Garten betroffen ist. Das mag so sein und in gewisser Weise ist das auch bei meinem Freund der Fall, denn eine Ausbildung hat er nie im Betracht gezogen, die Möglichkeit, Geschehnisse einzuordnen, in Relation zu setzen, ist ihm nicht gegeben. Interessen verfolgt er – ausser Geldvermehrung – keine. Die Pandemie beginnt für ihn dort, wo seine persönliche Freiheit, nämlich jene, tun und lassen zu können was er will, behindert wird. Wenn er mir mit bedrückter Stimme sagt, weil er es irgendwo aufgeschnappt hat, es sei dieser Tage bei uns fast so schlimm wie damals in Hitlerdeutschland ­– und man muss wissen, dass er kaum einen Politiker ausser Trump, Biden oder eben Hitler mit Namen kennt – wäre ich dem Narrativ glühender Impffreunde folgend dazu angehalten, ja eigentlich als Staatsbürger moralisch verpflichtet, erbost zu widersprechen und ihn aufzuklären, dass es bei dieser Massnahme einzig darum gehe, mit Druck die Impfbereitschaft zu erhöhen, um dann vielleicht – wenn Pandemie und Bundesrat es wollen – die leidigen Vorschriften endlich wieder aufzuheben. Aber ich sagte nichts, weil ich wegen eines Virus keinen Streit anfange. Ich rechne damit, dass es bald vorbei sein wird, wenn so viele wie möglich geimpft sind. Und dennoch: Auf eine Hand ins Feuer würde ich nicht wetten, denn auch ich bin nicht frei von diffusen Zweifeln, was die Geschehnisse der letzten 18 Monate anbelangt. Meine Zweifel beginnen damit, wenn ich sehe, was die Massnahmen insbesondere im Kunst- und Kulturbereich angerichtet hatten. Die Konzertsäle füllen sich zwar langsam wieder und viele Kulturinstitutionen haben ihre Arbeit wieder aufgenommen, doch für manchen freiberuflichen Musiker oder für manchen Chor glich Corona einem Todesstoss. Das sind weder Luxusprobleme, noch ist es trivial. Und meine Zweifel nähren sich am psychischen Zustand einzelner Bekannter, die sich schlicht nicht mehr trauen, irgendwo hinzugehen und wenn doch, dann nur mit Maske der Extraklasse und bewaffnet mit einer imaginären Stossstange als Abstandhalter. Und ich frage mich – wann werden diese Leute wieder im Stande sein, ihre Maske niederzulegen, anderen die Hand zu reichen oder sogar jemanden zu umarmen? Wenn ich zwischenzeitlich beim Grübeln bedachte, dass es sich um ein für den überwiegenden Teil der hiesigen Bevölkerung relativ harmloses Virus handelt, dann hatte ich meine Momente, in denen ich an der Verhältnismässigkeit des Ganzen zweifelte. Der Besuch des ungeimpften Freundes beförderte mich aufs Glatteis und ich frage mich ernsthaft – was mir heute wiederum lächerlich vorkommt –, ob ich vielleicht etwas übersehen hatte, einer jener bin, den man später fragen würde, ob ich es nicht hätte wissen können. Meine Unsicherheit war dieser unsichtbaren Wand geschuldet, diesem Gefühl, einer strukturellen Gewalt ausgesetzt zu sein, die mich von ihm trennte. Oder sie mich von ihm. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Repression im Sinne der Pandemiebekämpfung und damit richtig ist. Das Gefühl, staatliche Macht in einem Bereich zu spüren, der bisher frei davon schien, hat mich verunsichert. Der Freund und ich teilen die Erinnerung an einen gemeinsamen, verstorbenen Freund, dessen Grab wir gelegentlich auf dem Friedhof besuchen. Ob er, der Verstorbene, sich hätte impfen lassen, wollte mein Besuch wissen. Ja, natürlich. Und er fragte mich weiter: Aber dem, was jetzt passiere – dem hätte er sicherlich nicht zugestimmt, oder? Ich hatte darauf keine Antwort.

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