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Es werde Licht


Vielleicht geht es Anderen ja ähnlich: wenn ich nachts erwache und das Licht des Nachttischlämpchens nicht anknipsen kann und es nach mehreren Versuchen immer noch dunkel bleibt, merke ich, dass ich gar nicht erwacht bin, sondern immer noch schlafe. Es fällt mir dann ein, dass ich nämlich gar kein Nachttischlämpchen habe, nicht einmal einen Nachttisch, und dass ich zeit meines Lebens nichts dergleichen je hatte. Ich bin nachts stets ohne Licht durch meine Schlafzimmer geschritten, im Pyjama. Habe das Deckenlicht ausgemacht und die Strecke bis zum Bett im Dunkeln, je nach Wohngegend mit freundlicher Unterstützung einer Strassenlaterne, zurückgelegt. Sobald mir das wieder einfällt, ist der Spuk vorbei und ich erwache nun richtig.

Andere kauen Kaugummi im Traum, ich weiss das von einem guten Freund, und kommen damit nicht zu Rande. Wenn sie ihn ausspucken wollen, klebt er am Gaumen fest, und wenn sie ihn mit den Fingern aus dem Mund klauben wollen, zieht er immer längere Fäden und reisst doch nicht ab. An dieser Stelle, sagt mein Freund, begreife er erst, dass er nur träume. Und davon erwacht auch er dann sofort.


Genau wie mein Freund mit seinem Kaugummi realisiere ich, dass ich in einem Muster gefangen bin. Mit dem Unterschied, dass ich zu früh schon meine, erwacht zu sein, irgendwie mit einer Drehbewegung zum Nachttisch hin. Mit einer vielleicht imaginären Drehbewegung zum imaginären Nachttisch hin. Dass ich erst vom Regen in die Traufe komme, von einem Traum in den nächsten rutsche. Der sich mit diesem erfundenen Nachttischlämpchen eigenartigerweise anfühlt, als wäre er die Wirklichkeit.

Wenn man das so sagen kann, auch ein Traum ist auf seine Art eine Wirklichkeit. Eine Realität. Ich träume ihn ja. Aber er fühlt sich normalerweise nicht wie die Wirklichkeit an. Die fühlt sich real erst an, wenn ich erwacht bin. Auch wenn ich im Traum garnicht weiss, dass ich träume, weiss ich aber, dass ich nicht träume, wenn ich wach bin. Jedenfalls für gewöhnlich. Sozusagen mit traumwandlerischer Sicherheit. Die Hirnforscher mögen sich auskennen, unsereiner muss sich mit der Erfahrung behelfen, dass die Wirklichkeit eben manchmal anders ist als die Realiät.


Nach Jahr und Tag hat sich mein standardisiertes Erweckungserlebnis jetzt plötzlich weiterentwickelt: ich drücke eines Nachts, in ein Geschehen verstrickt, von dem ich nicht sicher bin, träum ich oder wach ich, den Knopf meines Lämpchens, das es in Wirklichkeit nicht gibt – und da geht tatsächlich das Licht an. Nach Jahr und Tag. Und mir durch den Kopf, dass ich für einmal wirklich erwacht sein muss.

Ich stehe auf, wanke durch mein finsteres Zimmer zur Türe und will mit dem Knopf, der daneben angebracht ist, das Deckenlicht einschalten. Nichts geschieht. Wie in einem Déjà-vu. Es bleibt dunkel im Zimmer, ich glaube sogar, auch das kleine Pfunzelchen auf dem Nachttisch, den es nie gab, hat nicht mehr gebrannt. Mir ist schlagartig klar, dass ich immer noch träume. Obwohl ich dann doch noch einmal vergeblich auf den Knopf drücke, denke ich im Traum nicht daran, wach zu sein. Ich stehe da in der Nacht und weiss, dass ich in einem Traum herumstehe, der sich als mein Schlafzimmer ausgibt.


Auch die Deckenlampe gibt es nämlich nur noch im Traum, fällt mir ein. Ich habe die alte Deckenlampe ausrangiert und mir eine Ständerlampe gekauft, die sich mit dem Fuss bedienen lässt. Ich weiss das, wie man nur irgendetwas wissen kann auf der Welt, und dass man sie mit den Zehen wunderbar dimmen kann. Sie steht mir gegenüber im Raum, ich brauche nicht einmal hinzusehen. Ich habe einfach aus lauter Gewohnheit auf den Knopf gedrückt, was schliesslich jedem passieren kann, sogar im Traum. Doch an dem Punkt stutze ich. Am Ende stehe ich nicht nur im Traum, sondern auch in der Wirklichkeit vor der Schlafzimmertür. In meinem Pyjama, während ich träume. Und bin am Schlafwandeln. Wie mancher ist dabei schon schwer verunfallt, fährt es mir durch den Kopf. Ich weiss, dass ich jetzt nicht weitergehen darf.

Aber dann lockt mich eine Stimme wie aus tausendundeiner Nacht: du könntest die Türe öffnen und nach draussen ins Freie treten. Hörst du nicht das Wogen der Wipfel? Das wiegende Korn in den Feldern? Wie still glänzt dir der Mond! Könntest wandeln die silbernen Hügel hinauf, mit schwereloser Kraft. Bis an die Sterne hinan! Und dort findest du endlich dein Glück.


Es wird nichts daraus. Ich winde mich auf einmal in den Laken. Ich steh garnicht an der Tür, ich habe mich vollkommen ins Bettzeug verstrickt und kämpfe mit dem Erwachen wie um mein Leben. Höre mich schreien. Hier in meinem profanen Bett. Und sitze jetzt aufrecht im Dunkeln und bin aus allen Träumen erwacht. Gottseidank. Zur Sicherheit kneife ich mich in den Arm. Alles ist gut, ich spüre ein Klemmen. Also bin ich noch nicht unter die Schlafwandler gegangen. Aber habe ich wirklich geschrien? Wenn nur meine Nachbarn nichts mitgekriegt haben!



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