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AutorenbildCaspar Reimer

Erlebnis im Herbst

Aktualisiert: 7. Okt. 2021

Menschen mit vierzig sind am weitesten vom Zauber der Existenz entfernt. Dies sagte mir neulich eine Bekannte, die mit mir das Schicksal teilt, an eben diesem Punkt Leben zu stehen. Die Mittelspanne des Lebens, sie steht häufig unter dem gelangweilten Stern des Trotts, tritt auf der Stelle des x-fach Wiederholten, geprägt vom Aufrechterhalten des Bestehenden. Ja sogar ekelerregend kann es sein, dieses Tal des Lebens, brach und karg, ohne Kitzel, Entdeckung oder Wind der Veränderung – ein langweiliger, eintöniger Mittelgang durch die Mittelmässigkeit, grau und freudlos. Ich selbst ertappe mich manchmal beim Schreck während der Morgendusche über den Gedanken an den Trott, der mir heute und noch hundertemale bevorstehen wird, ich beginne zu rechnen, lasse es aber mit dem Gedanken, dass es irgendwann vorbei sein wird, bleiben. Beim ersten Kaffee auf dem Balkon nagt das Gefühl dieser ausweglosen Tristesse an mir, allerdings kommt dabei tröstend wie ein guter Freund der Gedanke hinzu, als Selbständiger und Freischaffender ohne Existenzängste von Glück reden zu können, denn meine Tage sind keineswegs immer gleich, vieles mache ich sogar ausgesprochen gerne, auch habe ich keinen Chef im engeren Sinne, bin weniger eingespannt als die meisten meiner bekannten und verwandten Altersgenossen es sind. Und trotzdem – dieses Hetzen von einem Termin zum nächsten, die Reduzierung des Daseins auf Wertschöpfung während und zwischen den Stosszeiten, die Werbung mit ihren stumpfsinnigen Sprüchen im Nacken, die mir als Mensch mit Kaufkraft weismachen will, was ich alles brauche, um glücklich zu sein und damit jeden Funken eines eigenen Gedankens im Keim ersticken lässt. Neulich kam ich eines Mittags aus dem Büro und der terminfreie Nachmittag breitete sich vor mir aus wie ein bleierner Ozean, denn ich war ausgelaugt, lustlos, gereizt über die ständig veröffentlichten und lauthals vorgetragenen Botschaften, den digitalen Live-Ticker, das stumpfsinnige Korsett aus Geld verdienen, es ausgeben und der Organisation des Alltags. Fast hätte ich einfach weitergemacht, denn rotiert man einmal im Hamsterrad, ist es gar nicht so einfach, davon wieder loszukommen und sei es auch nur für einige Stunden. Ich hatte zwar keinen Termin mehr, aber Arbeit gewiss, und um ein Haar hätte ich einfach weiter funktioniert wie eine Maschine mit endlosem Akku. Doch da kam mir der Gedanke, mich für eine Weile aus dem Staub zu machen, unter die Erdoberfläche, weg von Kapitalinteressen und Produktion. An einen Ort, der mich mit wohliger Wärme empfangen und an dem ich, falls nötig, bis in den späten Abend verweilen könnte. Ich wollte weg, weg von Stress und insbesondere von allen Vierzigjährigen, dieser Horde herumhetzender Hühner! Ich verdrückte am Bahnhof ein Sandwich, gewissermassen als Mittagessen, und machte mich auf, schnellen Schrittes, ja fast fluchtartig – den Abhang links vom Bahnhof hinunter in die grösste Sauna der Stadt. Erst war ich noch versucht oder hatte den Gedankenblitz, mich im Erdgeschoss beim Krafttraining auszutoben, denn man solle den Kopf nicht hängen lassen, doch der Saunakeller, der auch Ruheräume, Dampfbäder und allerlei anderes zu bieten hatte, zog mich an, ich wollte aufgeben, einknicken, mich fallen lassen, sowieso würde es an einem Montagnachmittag kaum Menschen in der Sauna haben – insbesondere keine Vierzigjährigen, dachte ich mir. Ich war froh, in der Saunakabine alleine zu sein, verkrochen im Bunker und mit Gedanken an Zeiten, als meine Welt noch freier schien. Nur allmählich löste sich meine Anspannung und nachdem ich mich in der Ruheraum gelegt hatte, schlief ich sofort ein. Im späteren Verlauf des Nachmittags sass ich in einem weiteren Ruhezimmer und las in einer Zeitschrift einen ausführlichen Artikel über Quantenphysik, also etwa darüber, warum Teilchen an mehreren Orten gleichzeitig und erst bei Betrachtung durch den Menschen nur an einem Punkt existieren. Da hörte ich, wie sich die Tür öffnete und auch wenn ich weiterhin auf die Buchstaben und Sätze starrte, die mir das grösste Geheimnis der Physik zu erklären versuchten, konnte ich wahrnehmen, dass es sich bei dem Wesen, das da reinkam, um ein Mann handelte, ja einen Mann meines Alters sogar, der ebenfalls eine Zeitschrift nahm und sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf das Sofa setzte. Ich war fest entschlossen, mich jedem Kontakt zu entziehen, war verstockt, wohlig beleidigt über die anstrengende Welt mit ihren anstrengenden Zweibeinern. Auch wenn meine Augen bereits zu müde waren, um weiterzulesen, starrte ich stur in die Zeitschrift, doch so langsam begann sich meine Verschlossenheit zu lösen, konnte ich nicht mehr anders, versuchte kurz einen Blick zu erhaschen und was ich da sah, irritierte mich, denn der Mann hätte vom Aussehen her auch auf einem Werbeplakat posieren können, berufstätig und mit beiden Beinen im Leben stehend, aber wie er jetzt so da sass, eigentlich bloss und schutzlos, nur das Frotteetuch um die Hüfte, da wurde ich gewahr, welche Distanz der Alltagsstress zwischen den Menschen schafft. Was hat ihn veranlasst, an diesem Montagnachmittag alleine in einer Sauna rumzusitzen? Ich spürte, dass er mich wiederholt angesehen hatte und fasste schlussendlich all meinen Mut, versuchte nach der Anspannung auch die dem Hamsterrad verschuldete Einsamkeit abzustreifen und fragte ihn, ob er denn heute Nachmittag frei habe. Er lächelte und sagte in heiterem Tonfall – nein, er sei zurzeit arbeitslos. Wir lachten beide. Als ich die Sauna verliess, hatte ich meinen Ärger abgestreift und nicht vor, mich an diesem Tag wieder einspannen zu lassen – der Trott, er hatte bis morgen zu warten. Statt den direkten nahm ich einen Umweg nach Hause, der mich durch die herbstliche Dämmerung, einen sanften warmen Wind und einen kleinen Park führte, ein kleines Wäldchen, das ich vor Jahrzehnten mit meinem Jugendfreund, heimlich Zigaretten rauchend und Bier trinkend, aufgesucht hatte. Und mir wurde gewahr, dass ich auch Heute noch im Stande war, die Welt mit den Augen von damals zu betrachten – mit Neugierde und Zauber. Nur Zeit, die braucht es dafür. Ich werde sie mir nehmen.

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