Neulich gab es in der NZZ einen Leitartikel zu geniessen, dem man den Vorwurf der Kriegstreiberei nahe legen könnte – und dies, ohne ein hoffnungsloser Pazifist zu sein. Gewiss, die Texte von Eric Gujer fliessen in aller Regel einem roten Faden entlang, die Argumente sind in sich schlüssig. Trotzdem darf man sich ungeniert die Frage stellen, welches Bild der NZZ-Chefredaktor hier zeichnet. Unter dem Titel «Ohne Sicherheit kein Wohlstand» schreibt er: Europa sei ein militärischer Zwerg und die Deutschen seit der «pazifistischen Wende 1945» nicht mehr zu gebrauchen, sie seien von einer militaristischen Bedrohung längst zu einer eben pazifistischen Herausforderung mutiert. Ein gefährliches Sicherheitsvakuum entstehe über unserem Kontinent, schreibt er weiter, und die einstige Schutzmacht USA ziehe sich zurück. Die Europäer wären nicht Willens, die entstehende Lücke zu schliessen. Das nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Businessmodell, sich auf wirtschaftliche und soziale Prosperität zu konzentrieren und die militärische Sicherheit an die USA zu delegieren, sei hinfällig und dies bedrohe Europa.
Pünktlich zum 75. Jahrestag der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki setzt Gujer noch oben drauf: «Atomwaffen sind und bleiben der ultimative Garant jeder militärischen Sicherheit.» Auch in Sachen Nuklearwaffen sieht der NZZ-Chef Europa als den grossen Drückeberger – insbesondere die Friedensmacht Deutschland mache darum herum einen grossen Bogen. Der Artikel, erschienen in der Ausgabe vom 8. August, darf durchaus als Abstimmungsempfehlung für die Beschaffung neuer Kampfjets durch die Schweizer Armee wahrgenommen werden. Gujer wittert den Krieg, sieht dessen dunkle Wolken sich zusammenbrauen – vorzugsweise am östlichen Horizont: So reiche Pekings langer Arm mittlerweile bis nach Europa – zwar, wie sich Gujer ausdrückt, noch nicht militärisch, doch umso massiver wirtschaftlich und politisch. Man stelle sich vor, ein Angriff chinesischer oder russischer Cyberkrieger auf die europäische Energieversorgung. Und Moskau sei nicht mehr übermächtig, aber doch ein ernstzunehmender Widerpart, wie es sich physisch in der Ukraine und in Syrien, virtuell in Form von Informationskriegen zeige.
Eric Gujers Bild erinnert mich an lateinamerikanische Grossstädte, wo die Wohlhabenden in hermetisch abgeriegelten Ghettos, in Gated Communitys, leben – umgeben von Mauern und Zäunen, bewacht von Alarmanlagen und Kameras, geschützt vor der Meute draussen, die nur darauf wartet, ein Stück vom Kuchen der Reichen zu klauen. Und wie in der lateinamerikanischen Grossstadt, so zeigen sich die Verhältnisse im Grunde auch global: Wer nicht bis auf die Zähne bewaffnet ist, verliert seine Einflusssphäre, wird vom Zugang zu Rohstoffen abgeschnitten, gibt den Wohlstand auf. Und in der Weltpolitik hält nur ein Gleichgewicht des Schreckens das Gefüge aufrecht. Bestrebungen, Politik durch Verhandlungen und nicht mit Atombomben zu betreiben, tut Gujer als pazifistisch ab. Und mehrere Weltregionen lässt Gujer in seiner Analyse ganz aussen vor: Der gesamte globale Süden glänzt durch Abwesenheit. Seine düstere Zeichnung beschränkt sich auf die Spieler des Kalten Krieges, einzig Russland wird gewissermassen durch China ersetzt. Der reiche Norden, und der Süden – ja, was solls.
Die NZZ ist nicht die WOZ, soll sie auch nicht sein. Und es ist Gujer anzurechnen, dass er schreibt, was er denkt und keinen allerseits gefälligen Kitsch betreibt. Trotzdem sei die Frage erlaubt, ob es dem Mann möglich ist, etwas über den Tellerrand des Atomwaffendünkels à la Kalter Krieg hinauszudenken. Gerade angesichts dessen, dass er als Historiker wissen sollte, welches Leid Atomwaffen anrichten können und dass daher die noch immer laufenden Betstrebungen kommen, sie ganz zu verbieten. Befürwortet er allen Ernstes ein System, dass sich nur mit Androhung vom Waffengewalt halten lässt? Dieses Gehirn möchte ich nicht in meinem Kopf haben. Der Wohlstand, von dem er hier schreibt, ist seinem Bild nach nur für die Einen, keinesfalls aber für die Anderen gedacht. Reichtum auf Kosten anderer, denke ich mir. Das kann Ärger geben. Übrigens: Immer wieder ist in der NZZ zu lesen, dass der Wohlstand global insgesamt zugenommen habe, dank freier Marktwirtschaft, Innovation und so weiter. Wenn dem so ist, warum verbreitet Gujer nun Angst und Schrecken? Bedient er seine gutbetuchte Leserschaft?
Apropos Leserschaft bedienen: Das tut Gujer in der Deutschland-Ausgabe der NZZ online immer wieder: Da schreibt er, Merkel habe Deutschland ins Chaos gestürzt – wegen ihrer Entscheidung anno 2015 mit den Flüchtlingen. Und das Thema Migration dürfe nicht mehr tabuisiert werden. Auch das schreibt er. Das alles klingt irgendwie nachgeplappert, nicht sehr innovativ. Diesmal aus der Bierdose, statt dem Champagner-Glas. Für ein Blatt, das sich gerne als Flaggschiff der Schweizer Zeitungslandschaft bezeichnet, eigentlich eine Enttäuschung. Aber ich lese die NZZ trotzdem weiter. Bis das Abo abläuft.
Foto: unternehmen.nzz.ch
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