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AutorenbildCaspar Reimer

Engel im Zwielicht

Es geschah, nachdem er das traurige Loch, das er Büro nannte, verlassen, acht Stunden den Arsch wundgesessen, sich durch Vereinsmitteilungen und behördliche Verlautbarungen – Sätze als Formeln einer gelangweilten Gesellschaft, die dem Anzeiger zugeschickt worden waren – in geistiger Starre zwischen Wachhalten und Einschlafen, durchgearbeitet hatte. Seiner Gewohnheit nach fuhr er nicht mit dem Tram nachhause, sondern lief, um das Blei in Kopf und Körper zu verscheuchen, durch die Quartiere, vorbei an Dönerbuden, Coiffeursalons und Kneipen, über Schaltafeln vor Eingängen – Mäuler verschmierter, bröckelnder Stadtfassaden ­–, die unter seinen Füssen knarrten, dort aufgelegt worden waren, weil die von der Zeit vergraulten Gasanschlüsse längst fällig waren, seit Jahren nicht mehr der Norm entsprachen, durch schummrige Parks, kleine Wäldchen, wo das eine Teilquartier aufhörte und das andere begann, später Ringstrassen kreuzte, fette Marker zwischen den Stadtteilen, die immer breiter wurden, das Tram an Schwung zulegte, nach draussen ins ganz Grüne fuhr.


Wo die Quartiere der Stadt aufgehört, die Vororte noch nicht begonnen hatten – Zweispalt und Zwielicht in einer Leerstelle, wo es ein Fussballfeld und eine künstliche Eisfläche für Schlittschuhläufer gab, aber alles Erdenkliche hätte sein können ­– lief er auf dem Seitenweg der Ausfallstrasse, als sich aus dem restlichen Licht des Tages, den Wirrungen einer Hecke am Strassenrand eine Gestalt löste. Es war ein junger Mann, wie aus einem Märchen, einem Bilderbuch, der auf ihn zukam, ihn, sobald nahe genug, ansah, als hätte er nur auf ihn gewartet, im Dialekt der gutbetuchten Vororte erzählte, er sei seit einigen Wochen obdachlos, ob er vielleicht etwas Kleingeld haben könne. Die Begegnung war kurz, so wie die Durchfahrt eines Autos Zeit vertreibt, also keinesfalls lange genug, um verpasste Chancen zu überdauern, also lehnte er, war man doch weder eine Bank noch eine Notschlafstelle, ab, verabschiedete sich freundliche und lief davon.


Die Reue kam nur kurze Zeit später, der Jüngling weg, das Zwielicht erloschen, und er ärgerte sich ob der glatten Routine, mit der er den Jungen abgespeist, der kumpelhaften Oberfläche, mit der er ihn abgewiesen hatte, denn er war sicher, dass der junge Mann sich mehr als nur etwas Kleingeld von ihm erhofft hatte. Er hätte ein Obdach, ja auch Unterstützung bieten können. Im Gegenzug für ein Abenteuer, der Erotik des Unbekannten, entstanden im Zwielicht der Vorstädte. Wann würde er eine solche Chance ein zweites Mal erhalten? In seiner Erinnerung wurde der Jüngling immer schöner, nahm Gestalt eines Engels an. Er schämte sich und dachte daran, umzukehren, den Jungen zu suchen. Doch am nächsten Tag würde er wieder arbeiten müssen. Also ging er nach hause.

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