Einstein im Morgenverkehr
- Daniel Costantino
- 17. Apr. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Grüss Gott, sag ich zum Postomaten, ich hätt gern hundert Franken. Da nickt er freundlich und reicht mir statt des Gelds einen Hamburger durch den Schlitz. Aha, eine neue Postomatengeneration, mit der es noch nicht ganz klappt. Typisch. Dampfend und tropfend hängt er zum Schlitz heraus und ich steh herum mit dem geöffneten Portemonnaie und der flatternden Quittung in der Hand. Eine Ablage ist auch nirgends in Sicht. Na, was schert’s mich! Hab ich etwa Hamburger gesagt? Sowas brat ich mir nicht einmal mehr zuhause am PC. Höchstens noch ab und zu einen Storch. Den scann ich mir schön zusammen und hole ihn dann dort, wo früher die CD reinkam, heraus. Ich glaube, Ionisation heisst das Prinzip. Oder so ähnlich.
Vielleicht gibt es irgendwo unter Sonnen und Galaxien einen Stern, auf dem alle schönen Ideen, aus denen nichts geworden ist auf Erden, als reine Seelen ihr Leben weiterführen. Es flögen dort Seelenfahrräder durch die Lüfte. Es gäbe Morgensterns Stuhl mit eingebautem Sitzgeist, der sich nach dem Belieben des Sitzenden immer wieder anders zusammenflöchte. Und Postomaten hätte es dort, Postomaten! Die schönsten und ausladendsten, die man sich vorstellen kann. Ganz ohne Hamburgerausgabe, dafür mit richtig tollen Ablageflächen.
Was aber geschieht, wenn so eine Idee plötzlich aus ihrem Paradies vertrieben wird, weil sie hienieden noch einmal jemand erdenkt und sie deshalb zu uns zurückkehren muss? Dem Rauchen passiert das immer wieder. Die ersten schlotenden Steinzeitburschen waren ausgestorben, bevor sein Beispiel überall hat Schule machen können. Darum ist es zu völlig unterschiedlichen Epochen mal da, mal dort auf dem Erdball aufgetaucht und wieder verschwunden und hat einmal im Paradies, ein andermal wieder bei uns in der Hölle sein Unwesen getrieben. Wann sind Sie denn gestorben? wird das Patentamt fragen, wenn es das nächste Mal bei ihm anklopft.
Aber der zuständige Beamte, der vom Rauchen nie gehört hat, wartet die Antwort gar nicht ab. Er ist mit der Herausbildung ganz anderer Ideen, nämlich mit den Gedanken, den Gedanken an sich beschäftigt und damit, wie sich endlich an ihre kaum mitzuverfolgenden Verbindungen herankommen liesse und an ihren Fortsetzungsdrang in alle Richtungen. Und - der Beamte entpuppt sich als wiedergekommener Einstein - wie sie dennoch in ihrer Wesentlichkeit darstellbar wären. Er richtet sich kerzengerade auf und teilt dem Rauchen und gleichsam uns allen mit, dass für die Tragfähigkeit eines Gedankens nicht die Logik massgeblich sei, sondern seine Komplexität, seine polygamen Qualitäten, und für seine Lebendigkeit das Chaos, aus dem er sich gebiert, das verblüffend mückenschwarmartige Kunterbunt und Weissnichtwas davor. Und dass dagegen ein verstehbarer Zusammenhang - er blickt dem verdutzten Rauchen streng in die Augen - und überhaupt jeder verständlich geäusserte Satz nichts als Konvention und lächerliche Beschränkung, die pure Willkür sei.
Und übrigens raucht und rauscht seit längerem der Morgenverkehr und überspült das Zwitschern der aufwachenden Vögel. Durch die offene Balkontüre dämmert’s mir und bald der ganzen Stadt. Manchmal geschieht’s in solchen Momenten, dass ich mich klein wähne und Kind und mir die Welt der frühen Jahre so vertraut auflebt, als hätte ich sie nie verlassen. Der Lärm, der von allen Seiten hereinbricht, die Flut der heranbrausenden Autos, das Aufheulen der Motoren, die strebsame und schletzende Eile, mit denen die Menschen in Scharen aus den Häusern laufen, vorüberhasten und in den Bürogebäuden, wo das Licht angeht, wieder verschwinden, das Knattern der Busse, die an der nahen Station anhalten und den Boden darunter in Vibration versetzen, die ganze beflissene und dröhnende Geschäftigkeit, die sonst mein Missfallen erregt, berückt mich nun und zieht mich in ihren Bann, und es wird mir behütet und heimatlich zumute wie damals, als ich noch ein kleiner Junge war.
Doch mein Wecker knirscht. Das macht er immer, kurz bevor er läutet. So ein knirschendes oder schabendes, irgendwie schmirgelndes Geräusch, wie wenn eine Maus in der Wand sich an etwas zu schaffen machte. Einstein steigt aus dem knatternden Bus, ich seh seine Mähne im Menschengewühl. Er ist alt geworden. Sein Sitzgeist redet auf ihn ein und füllt im Gehen ein Formular aus, das Einsteins volle Zufriedenheit mit den Verkehrsbetrieben ausdrückt. Und ich finde mich aufs Mal wieder vor dem vermaledeiten Postomaten und brauche hundert Franken und weiss nicht, wohin mit dem dampfenden Hamburger.
Dann läutet tatsächlich der Wecker. Sicherheitshalber lege ich ihn nie auf den Nachttisch, sondern ins Büchergestell, damit ich aufstehen muss, um ihn abzustellen. Was eben halt geschieht. Es folgen die üblichen morgendlichen Verrichtungen. Und dann geh ich ins Büro. Zu meinem Erstaunen mit einem französischen Psalter auf den Lippen: Der Tag ist hin. D-Moll. Ich bin also gut in Form, wie’s ausschaut.
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