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Daniel Costantino

Eines Sonntags

Eines Sonntags klopfte ein Mensch an seine Tür, der suchte Zerstreuung. Er bat ihn herein, sie setzten sich in die leere Stube. Um langer Weile zu entgehen, sprach der Gast, und ein Leben zu führen, das sich verlohne, erfinde er sich täglich neu. So habe er in einer einzigen Nacht, der Computer mache es möglich, ein musikalisches Werk komponiert, obwohl er kein Instrument und keine Noten beherrsche, eine hübsche Schnorzette für kleines Orchester. Der Computer spiele sie ihm vor und er dirigiere mit dem Zeigefinger dazu, eine gröbere Behandlung vertrage das sensible Stück nicht.


Da halte er es anders, gab er zur Antwort und holte als Hausherr beiden etwas zu trinken, schenkte zwei Gläser Soda ein und setzte sich wieder. Er stelle sich im Gegenteil vor, er existiere gar nicht, es gäbe nur die Andern, aber nicht ihn, und so hätten die Andern über ihn nichts zu reden oder zu lesen und in ihrer Welt klaffte eine Lücke, die sie nicht bemerkten, und statt mit ihm zum Beispiel zu reden, schauten sie fern oder zappten auf ihren Handygeräten herum und führten sich Reklame zu Gemüte, die sie besser befriedige als zipp ein Gespräch oder zapp ein Buch oder, um dem Gast die Ehre zu geben, ein musikalisches Werk.


Er holte eine Zigarette hervor und bot auch dem Gast eine an. Sie rauchten.

In gewisser Weise, meinte der Gast, entspreche die Vorstellung der eigenen Inexistenz doch ein wenig seinen täglichen Ausweichsmanövern, wenn er das recht verstehe. Sich still und im Schatten und die Andern davon beeinflusst zu denken, ob sie den Schatten wahrnähmen oder nicht, das gefalle ihm. Was wieder andere Andere beeinflusse, deren Schatten sich mit den ersten Anderen berühre und deren Leben, einmal so, einmal anders, von den einen Anderen wahrgenommen, von den anderen nicht, durch beide Fälle einen unabsehbaren Verlauf nehme, ob im Grossen oder Kleinen und Kleinsten, spiele keine Rolle; am Ende sei alles, ob wahrgenommen oder nicht, ein Teil von allem und die Weltgeschichte nicht nur beeinflusst davon, wer unter allen Schatten sich wahrgenommen fühle und wie, sondern auch, welche Schatten nicht wahrgenommen würden. Jeder tue dies und das oder nur dies und nur das, und dies und das hätten weitreichende Folgen; oder er tue ein Drittes, was mit dem oder jenem zusammenhänge oder nicht und gerade, weil es nicht zusammenhänge, ungeahnten Einfluss bekomme, und tue es, weil er sich zugehörig fühle oder weil er sich nicht oder zuwenig zugehörig fühle; weil er sozusagen für die Andern existiere oder nicht existiere und sowieso auch für die, für die er existiere, immer ein wenig ein Anderer sei, im negierenden Indikativ oder im irrealen Präsens sei und sich wähne und lebe und beidemal und allemal ein wenig ein Anderer sei oder wäre, wenn überhaupt; und wenn überhaupt Spross seiner Eltern, um von anderen unabsehbaren Kräften der Natur zu schweigen, die mit dem Menschen verfahre, wie es ihr passe, doch um die Sache nicht zu komplizieren, wolle er es dabei belassen: Spross seiner Eltern, aber später oder früher gezeugt, ein paar Tage, ein paar Stunden, ein paar Sekunden, ein anderer Samenfaden befruchte ein anderes Ei oder dasselbe oder derselbe Faden ein anderes Ei oder ein drittes und Knausogino funke nicht dazwischen, was ausserdem möglich sei.


Ja, es sei vieles möglich, entgegnete der Hausherr nach einer Pause und drückte seine Zigarette aus. Dass man, aus Ei und Faden geworden, was man sei, Gandhi über den Weg laufe oder Marx und es eine Bedeutung gewänne, vom einen oder andern inspiriert zu werden oder beiden oder dass man sie beide ablehne zipp! und sich einer andern Anschauung verschreibe zapp! bis ins Innerste von Ei und Faden hinein oder eben keiner, keiner, die einem bewusst wäre, das meiste tue und denke man sowieso, wie alle andern es machten. Der Spielraum sei eingeschränkt, wenn man einmal Faden und Ei zu sich selber oder ein wenig früher oder später zu seinem eigenen Bruder verschmolzen sei oder zu seiner Schwester, die es nun als Schwester nicht oder so nicht gebe, oder, wer könne es wissen, zu einem Zwilling einer Ahnin, verstorben in Gott oder den Göttern. So sei man zipp oder zapp oder nicht, so wäre man oder würde man oder seis gewesen, Hexenbesen, Prinz oder unnummerierter Trottel, so und anders mit allen verwandt, den Landstreichern und Anstreichern der Welt, ihren Ammen und Hebammen und allen Brigittebardots.


Es war ein eigentümlicher Gast, der mit kindlichem Gesicht und vorgerecktem Hals bei ihm in der Stube sass; kein Mensch, mit dem man über Billigmarktketten oder zeitgemässe Partnerschaftsmodelle eine angestrengte Konversation führen musste. Sie sassen auf zwei steifen Stühlen am Stubentisch, der Gast von einer Bücherwand eingefasst, er in der Nähe des Fernsehers, dessen Antenne quer über ein halbes kleines Fenster in die Luft ragte. Inzwischen war in der Küche Kaffee aufgesetzt.

Er denke ähnlich über die Dinge, nahm der Gast wieder das Wort. Gerade sei ihm eine Wendung, er glaube, ursprünglich ein Vers von Goethe, eingefallen, von den zwei Seelen, ach! in einer Brust. So ins Allgemeine gesprochen, sei das stark untertrieben, man bestehe aus zahlreichen Wesen. Er habe manchmal das Bild eines Ruderboots vor Augen, acht Ruderer sässen darin, alles Wesen seiner selbst. Sieben ruderten ganz gleichmässig im Takt, einer aber aus der Mitte rudere verkehrt. Beugten sich die anderen vor, falle er nach hinten, stemmten sich die sieben zurück, stürze er nach vorne. Das Bild lasse sich weiter ausmalen, nicht nur einer, mehrere, alle ruderten verkehrt, jeder auf seine eigene verzerrte Weise, so sei eine Menschenbrust in Wallung beschaffen. Eine ganze Ruderregata auf einem See, jedes Boot im Wettkampf gegen sich selbst und gegen die anderen, könne man sich vorstellen, jede Besatzung in einer anderen Richtung unterwegs, die sich vom Spiel und Widerspiel ihrer eigenwilligen Mitglieder, vom Zickzack ihres Vor und Zurücks, dem natürlichen Spiel der Wellen werde auch seine Rolle zukommen, er sei aber kein Physiker, vom Zickzack der Besatzung und ihrer eigenwilligen Mitglieder zufällig ergebe und wieder ändere, ein wirres Narrenspiel über dem See verteilt. Das könne eine Familie mit zahlreicher Verwandtschaft oder einen beliebigen mittleren Verband darstellen, um die ganze Gesellschaft abzubilden, reiche ein See nicht aus und müssten andere Vergleiche der Desorientierung erfunden werden.

Sie rauchten.

Er spreche ihm aus der Seele, erwiderte der Hausherr dem Gast. Der Ausdruck erscheine nach dem Gesagten zwar paradox, man bestehe in der Tat aus vielen Einzelwesen, vielen Seelen, nur durch die Haut miteinander verbunden. Seele in der Einzahl zu denken heisse aber, Ich zu sagen, Ich zu fühlen. Das Ich sei allerdings etwas Augenblickliches, von Mal zu Mal wieder anderes. Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, ohne im Weitersprechen den Rauch herauszublasen. Oder, wenn es vom Augenblick abhänge, was oder wer man zipp oder zapp gerade sei, sei das Ich vielleicht nur ein Geschöpf auf Pikett, das beobachte, was man selber gerade tue, ohne Einfluss darauf zu haben. Stets wolle es, aber vermöge es nicht einzugreifen, könne, ein handlungsunfähiger persönlicher Schutzengel oder dergleichen, Schutz- und Trutzengel, dem Lauf der Dinge nichts entgegensetzen.


Dieses Ich auf Pikett, sinnierte mit zur Decke erhobenem Blick der Gast und spielte, seine halbgerauchte Zigarette hatte er auf den Aschenbecher gelegt, im Ungefähren der Stubenluft mit seinen Fingern dazu, schlenkerte sie, verschränkte sie linker- und rechterhand wie Gitterstäbe vor seiner Brust, verkeilte sie mit Nachdrücken der Hände ineinander, dass sie knackten, sich krümmten und bogen, löste sie flugs voneinander, schlenkerte sie mit ausgebreiteten Armen noch einmal, gähnte dazu, schüttelte sie, liess sie zur Tischkante gleiten, wo sie als trommelnde Regentropfen sich sammelten, allmählich beruhigten, und mit dem Spiel, da hatte der Gast seinen kindlichen Kopf mit dem vorgereckten Hals wieder dem Hausherrn zugewandt, blind unter der Tischkante von vorne anfingen, vom Bewusstsein dessen, zu dem sie gehörten, getrennt; der sich nun wiederholte, noch einmal dieses Ich auf Pikett sagte, während seine Zigarette still auf dem Aschenbecher vor sich hinmottete –

dieses Ich auf Pikett fürchte den Tod und aber freue sich auch auf ihn. Wenn es nämlich noch jung sei und hoch hinauswolle, verkläre es den fernen Tod, erwarte das Sterben als ein orgiastisches Fest, als intensivstes Empfinden des Glücks. Reifer geworden, mittlerer Mensch und desillusioniert, mache es sich ganz andere Gedanken, fürchte sich, als tauchten die alten Sagen der Kindheit wie flottierende Ängste in ihm wieder auf und mischten sich mit allerlei Halbwissen eines Erwachsenen, vor einem ewigen, doch schrecklichen Leben in auswegloser Einsamkeit und Gefangenschaft, einer kalten, unbarmherzig leeren Hölle, nicht einmal den Teufel gebe es da, wo es als ein starrer kleiner Klumpen Materie ganz für sich alleine in einem dunklen Kosmos ewig zu sein habe, sich selbst dabei unverändert als sich selbst empfinde, man sei immer einfach sich selbst, geschehe und möge geschehen sein, was da wolle, das Pikettstehen kenne kein Alter – hier bemerkte er endlich die auf dem Aschenbecher mottende Zigarette, drückte sie aus und fragte, ob er noch eine haben dürfe, er sei leider ganz ohne Zigaretten aus dem Haus gegangen, man werde zerstreut im Alter, und der Andere reichte ihm eine, hielt ihm ein Feuerzeug hin und bat ihn weiterzureden, während er den Kaffee holen gehe, er könne ihn auch aus der Küche hören.

Gut, sprach der Gast etwas lauter weiter, indes der Hausherr, den aus der Küche dampfenden Kaffee in der Nase, sich geschwind entfernte, gut! das Ich kenne kein Alter, stehe einfach ständig auf Pikett, ohne je in das Geschehen eingreifen zu können, selbst wenn es wolle, ja müsste; gerade wenn es müsste; schliesslich weiche dieses Ich – er drehte den Kopf nach einer Formulierung suchend zum Fenster hin, wo der Fernseher mit der ausgezogenen Antenne den Eindruck machte, als stünde auch er auf Pikett – weiche dieses Ich, dieser Mensch, wolle er sagen, das mittlere Alter dieses Menschen, dieses desillusionierten Menschen, heisse das, dem hohen Alter, oder besser gesagt: sei dieser Mensch - er spürte ein Kratzen im Hals, räusperte sich und nahm nun, indem er etwas leiser weiterfuhr, den ganzen Bildschirm ins Visier - Mensch nun alt und glaube an keine Zukunft mehr, weder an eine gute noch an eine schlechte, an die Hölle nicht, an die Erlösung nicht. Er fürchte sich nur vor der Gegenwart und vor den Qualen seines Zugrundegehens, beschwörte er den Bildschirm, denen er so gut er könne ausweiche, bis er, etwa mit dem Sammeln von Kaffeerahmdeckeln und sonstigen Grillen, sein klappriges Leben endlich verhauche. Ein Elend, ein Elend, glauben Sie mir! Und wandte den Kopf vom Bildschirm ab und wieder der Küche zu.


Während der Rede des Gastes stand der Hausherr vor dem offenen Kühlschrank, aus dem er den Kaffeerahm hatte holen wollen, und versuchte, das Licht im Kasten zu flicken, das nur noch flackerte und Anstalten machte, den Geist aufzugeben. Wie ein Arzt seinen Patienten, betastete und beklopfte er den Kühlschrank vorsichtig am wunden Punkt, wo das Lämpchen, als wärs das viel zu kleine Herz eines massigen Körpers, in einer abgedichteten Verschalung lag und weder auf ein sensibles Klöppeln mit dem Zeigefinger noch auf gröbere Behandlung mit der ganzen Faust reagierte. Er fluchte und hämmerte stärker und bald mit aller Kraft auf die Verschalung ein und vergass darüber den Gast, dessen Ausführungen in der Stube er erst noch verwackelt, dann in Schüben und aus grosser Ferne und endlich, das Lämpchen im Kühlschrank verlangte seine volle Konzentration, garnichtmehr wahrnahm. Es fiel ihm aber ein Freund ein, der neulich im Spital verstorben war, nachdem er sich geweigert hatte, auf die Intensivstation verlegt zu werden, und trotz der Warnung der Ärzte, er werde die Nacht sonst nicht überleben, in Ruhe gelassen sein wollte und stur seine billigen Fernsehserien und auch noch deren Wiederholungen sich anschaute und sich vor dem Fernsehkästchen schräg über dem Krankenbett noch den Nacken verstauchte, bis sein schwaches Herz tatsächlich zu schlagen aufhörte und die Krankenschwester um fünf Uhr morgens das im Bettenhochhaus des Spitals immer noch bläulich flimmernde Kästchen abstellen musste. Welch geistige Verelendung eines alten Menschen! brummte er und brachte das Lämpchen trotz Zerren und Trommeln an der Verschalung und am ganzen Kasten und aller List - etwa durch abruptes Schliessen und wieder Öffnen der Kühlschranktüre oder wohldosierte kurze Pausen beim Manipulieren und Reissen an der Verschalung, damit es keinen Angriff erwarte und schliesslich doch überrumpelt und bezwungen wäre - welch eine Verelendung! eines Menschen, der einst die Freiheit geliebt hatte und wider den Stachel gelöckt, sich für Kunst und Philosophie interessiert, ehe Alter und Resignation ihn zermürbt und aus einem stolzen Menschen einen Jämmerling gemacht hatten, der an seinem Fernsehkonsum intellektuell erstickte, an seinen Serien und Soaps, wie er sie nannte, an der stupidesten Unterhaltung des Menschengeschlechts, und sich nicht mehr daraus zu befreien wusste zuletzt und, - er brachte das Lämpchen, das durch sein Zerren und Klopfen an der Verschalung den Geist nun ganz aufgab - je mehr er den Tod gefürchtet und damit gleichsam das Leben, sich umsomehr an den Fernseher geklammert hatte wie ein verängstigtes Kind an die Mutter, damit nichts Schlimmes und nichts Böses, kein Liebes und kein Leides und überhaupt nichts mehr geschehen und an ihn herankommen konnte, das war nämlich der Grund gewesen, dass er sich nicht hatte verlegen lassen wollen im Spital, gerade nicht der Mut, sondern die klägliche Angst vor dem Tod; hier zog er, weil das ein ganz neuer Gedanke war, den Kopf aus dem Kühlschrank, richtete sich halb auf, schielte zur Decke hin, überlegend, ob er über die Befindlichkeit seines verstorbenen Freundes wirklich das Richtige denke, bestätigte es durch ein entschiedenes Nicken, bückte sich wieder hinab und brachte das Lämpchen im Kühlschrank nun vollends nicht mehr zum Leuchten.


Da besann er sich darauf, dass ein elendes Kühlschranklämpchen nichts war, das die Zeit verlohnte, kramte aus dem dunklen Kasten den Kaffeerahm hervor, schenkte Kaffee in die schon bereitgestellten Tassen, stellte alles auf ein Tablett, holte Zucker aus dem Küchenschrank dazu und trug das Tablett in die Stube, wo aber kein Gast mehr da war und sein Stuhl leer vom Tisch gerückt vor der Bücherwand stand. Der Fernseher am Fenster schaute ihn mit hochgestellter Antenne an wie ein verdutzter Hund.

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