Ein Tag wie jeder andere
- Caspar Reimer
- 16. Okt. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Okt. 2024
Eines Morgens öffnete ich die Tür, um einen Freund zu empfangen. Doch statt der beschaulichen Quartierstrasse klaffte knapp vor meinen Füssen eine Baugrube. Sie musste über Nacht gekommen sein. Senkrecht fiel der Boden auf der ganzen Breite des Hauses ab. Die Baugrube glich einem Krater, der sich bis weit über die andere Seite der Strasse hinaus erstreckte. Mein erster Gedanke war, im Briefkasten nachzusehen. Normalerweise wurde die Anwohnerschaft von der Gemeinde per Schreiben über Bauarbeiten informiert. Doch der Weg zum Briefkasten seitlich der Zufahrt war weg. Man hatte daran gedacht, die Baugrube mit Schranken zu sichern. Das beruhigte mich, musste es sich also um eine ordentliche Baustelle handeln. Doch: Die Aushebung eines solchen Kraters direkt vor meinem Haus musste Riesenkrach gemacht haben. Und ich hatte nichts bemerkt? Dieser Gedanke weckte Zweifel. Mir blieb aber nichts anderes übrig, als mich mit den Tatsachen abzufinden. Den Stier bei den Hörnern packen. Das hatte ich mir über die Jahre so beigebracht. Einst, in einem Psychologieseminar, wurde mir eine hohe Resilienz bescheinigt. Darauf war ich immer ein bisschen stolz. Ausserdem: Eine Baustelle per se war nichts Ungewöhnliches – es wurde viel gebaut in unserer Zeit.
Tief in der Grube standen Männer mit orangenen Anzügen und Helmen. Ihr Aufzug passte zu Bauarbeitern, wie man sie überall in der Gegend kannte. Obschon sie – wie das in der Branche üblich ist – laut gestikulierten, konnte ich ihre Worte nicht verstehen. Sie waren zu weit weg. Ich hätte sie rufen können. Fragen, was los sei. Doch das entsprach nicht meiner Art. Also blieb ich still. Ein paar Männer schweissten an Verbindungsfortsätzen von schwarzen Rohren, die kreuz und quer den Grund der Grube durchzogen. Ob es neue Leitungen zu verlegen gab? Ein Bauarbeiter sass auf einem Vorsprung aus Beton in der Wand, schaute in die Grube zu seinen Kollegen hin und ass ein Sandwich. Bei seinem Anblick dachte ich daran, dass in meinem Haus das Frühstück wartete, das ich für meinen Freund und mich vorbereitet hatte. Der Kaffee würde kalt werden. Ich prüfte jetzt links und rechts, ob es einen Weg entlang der Hauswand gäbe, der mich aus dem Bereich der Baustelle führe. Doch an vielen Stellen fiel der Krater beinahe nahtlos von der Hausfassade ab. Jeder Versuch wäre zu gefährlich gewesen. Ausserdem war die Schranke im Weg.
Plötzlich hörte ich Jauchzer und Schreie. Den Lauten haftete etwas Tierisches an. Sie kamen, wie ich jetzt erkennen konnte, von einer Person aus einem tiefen Bereich auf der gegenüberliegenden Seite der Grube. Dort, wo Schweissgerät das Gestein zum Funkeln brachte. Und jetzt erkannte ich ihn: Zwischen Maschinen, Metallgerüsten, Bauarbeitern und Feuerfunken hüpfte und tollte wie ein Irrer der Freund, den ich erwartet hatte. Zuerst überkam mich grosse Sorge. Ich fragte mich: Was war mit ihm passiert? Wie war er überhaupt in die Baugrube gelangt, hatte er doch einen steifen Rücken? Normalerweise bewegte er sich sachte, ging Hindernissen aus dem Weg. Jetzt aber sprang er kreuz und quer umher als wäre das ganz selbstverständlich. Ob er Drogen genommen hatte? Auch das wäre untypisch gewesen. Jetzt wich meine Sorge der Kränkung. Machte er doch keine Anstalten, den Weg zu mir wieder aufzunehmen. Wie kam er dazu, unser Treffen zu sabotieren? Ich holte mein Handy aus meiner Hosentasche und rief ihn an. Es dauerte lange, bis er endlich ranging. Was los sei, fragte ich ihn. Er lachte und sagte voller Glück: «Ich habe jetzt andere Freunde gefunden. Mach’s gut!» Er legte auf. Groll und Bitterkeit verdunkelten den Tag. Der doch gerade erst begonnen hatte. Meine Seele vereiste. Es war etwas passiert, das ich nicht vorausgesehen hatte. Ich ging – Jauchzer und Schreie des verlorenen Freundes verklangen – zurück in mein Haus. Um besserer Zeiten zu harren.
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