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Ein Klavierabend und seine Folgen

Spross einer barocken Invention und delikater Faden des Themas, emanzipierte sich dem talentierten Pianisten Trepp nach einigen tadellosen Proben seines Könnens plötzlich, und zwar ausgerechnet im besten, vollbesetzten Haus der Stadt, ein nicht zu bändigender übermässiger Akkord, entwich am verdutzten Publikum vorbei zur Saaltür hinaus und kehrte, obschon noch dringend gebraucht, allen Bemühungen Trepps zum Trotz nicht wieder. Es klaffte nun dort, wo der Verschwundene im weitern Verlaufe wieder hätte erklingen sollen, jedesmal eine schmerzliche und, wenn man so sagen darf, nicht zu überhörende Lücke.


Dem erschrockenen Trepp gelang es, die Invention mit einiger Würde, wenn auch lückenhaft zu Ende zu bringen. Sobald er den Akkord spielen wollte, der immer wieder, meistens arpeggiert, in der Partitur auftauchte, so griffen seine Finger zwar in die richtigen Tasten, allein die Saiten des Flügels blieben stumm. Es entstand eine zusammenhangslose Kakophonie aus lauter Fetzen. Drückte er aber dieselben Töne a, cis, f ausserhalb ihrer thematischen Einbettung, schlugen sie an, als wäre nichts gewesen. Das Stück ertönte so, wie es sich gehörte.


Ihm schwirrte der Kopf. Er verzichtete auf die Wiederholung des letzten Teils, an den sich noch, gänzlich frei übrigens vom übermässigen Klang, eine berühmte Coda angeschlossen hätte. Auch sie fiel nun den Umständen zum Opfer. Das Publikum spendete einen mageren, diffusen Applaus. Trepp stand auf, nickte verdattert zur ungefähren Saalmitte hin und entfloh, es war noch nicht einmal Pause, mit einer Geste des Abbruchs hinter die Bühne zur Künstlergarderobe, packte seine Siebensachen zusammen und verliess das Gebäude durch einen Hinterausgang, noch ehe der Direktor kommen und nach dem Rechten sehen konnte.


Zum Hauptportal hinaus aber war längst der Akkord in die Nacht entkommen, war im gelben Licht der Strassenlaternen und der funkelnden Pfützen des Kopfsteinpflasters, es hatte den ganzen Nachmittag in Strömen geregnet, zu den nassen Stromkabeln über den Tramschienen hinaufgeklettert und in der Gestalt einer Klangwolke, einer späten Nachhut des Unwetters, schliesslich an den Stadtrand gelangt, wo sich hinter einer Badeanstalt und den dunklen Konturen eines Hügelzugs die Autobahnzufahrt befand; da glitt er, immer schön seine Proportionen von 16:20:25 wahrend, langsam wie ein gebauschter Drachen von den Hängen zur Autobahn ins Scheinwerfermeer hinab und entlud sich dort exakt in der Kabine des Lastwagenlenkers Tobias.


Tobias, nur mit zwei lockeren Fingern nämlich am Steuerrad und den linken Arm lässig über den Rahmen des offenen Seitenfensters gelegt, voller Vorfreude aufs Feierabendbier mit den Kollegen vom Kegelverein und von einem schmalzigen Schlager aus dem Radio beschallt, dessen Refrain er nebenher und falsch zum pathetischen Vibrato einer Sängerin mitintonierte, Tobias, dieser junge, hoffnungsvolle, noch ledige Mensch muss in seiner Kabine einen idiopathischen Hörinfarkt der schlimmsten Art und den übermässigen akkordlichen Platzregen durchs Kabinenfenster, möglicherweise auch dessen Zusammenprall mit dem schmalzigen Klanghaufen aus dem Kasten als eine furchtbare Irritation, als eine grässliche Ballung disharmonisch zerrissener Salven in seinem Ohr erlebt haben. Von der Vermengung mit seinem eigenen, unmelodiös verknickten Gekrächze noch zu schweigen. Im Polizeibericht stand später nüchtern nachzulesen, er habe die Beherrschung über den Laster verloren. Er soll vom ungebremsten Aufprall gegen ein Futtersilo neben der Autobahn auf der Stelle tot gewesen sein.


Die Trauergemeinde war gross und fassungslos. Der Kegelverein erschien in corpore an seinem Grab. Auch viele Berufskollegen waren gekommen. Tobias‘ Firma spendete einen schönen Kranz. Eine junge Frau, die ganz alleine stand, hielt eine Rose in der Hand und hielt sie noch, als die Zeremonie schon vorüber war. Nachdem der Priester eine Stelle aus der Schrift gelesen hatte, wurde der Sarg hinuntergelassen. Zwei Totengräber schütteten ihn zu.


Vom weiteren Leben des Pianisten Trepp weiss man wenig. Er ist jedenfalls nie wieder aufgetreten. Dem Vernehmen nach hat er sich kurz nach diesen Vorfällen als Angestellter einer Handelskette in einer anderen Stadt niedergelassen.


Und das Publikum? Das Publikum ist nach Hause gegangen und hat den Abend schnell vergessen. Wie alles Publikum der Welt blieb es von den Ereignissen unbelastet und hat von den wahren Zusammenhängen nie etwas erfahren.


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