Aus fesselnden Träumen in den freien Sonntag entlassen, sitz ich am Küchentisch und brumme mich, noch schütter im Geist, durch ein Wochenendblatt. Ich lese von Wachstum und Wirtschaft und lauter Dingen, die ich gleich wieder vergesse. Zum Fenster herein sprenkelt die Sonne den blanken Boden. Im Schatten der Herd, eine Kaffeetasse wartet. Der Börsenkurs schwankt. Die Nati versagt. Die Regierung fällt um. Still brech ich mein Brot. Bis mich eine fette Schlagzeile schreckt: „Die Schweiz hinkt bei den Englischkenntnissen der Bevölkerung hinterher.“ Heimat meiner Lieben! Die Schweiz hinkt der Bevölkerung hinterher? Ich nehme mein Morgenhirn auseinander und lettere es gegen den Strich wieder zusammen. Und siehe, so erkenn ich die Welt. Die Schweizer Bevölkerung ist es, die mit den Englischkenntnissen hinterherhinkt. Alles courant normal, Helvetien bleibt stehn, wo es ist.
Darauf köpf ich mir ein Ei. Und hole Kaffee und die Tasse vom Herd. Langsam werde ich munter und fasse einen Ausflug ins Auge. Das Wetter ist schön, ein bisschen aufs Land.
Bei „Halt auf Verlangen“ drück ich spontan den Knopf und steige aus dem Zug. Es empfängt mich ein Holzschild mit einem Flurnamen drauf, mir zu Füssen eine Herde Kühe, nur gerade ein Zaun dazwischen. Im Hintergrund Bauernland, sattes, gelbes Getreide und ein ausladender Hof. Niemand anders steigt aus. Eine Mutterkuh guckt schräg zu mir hin, und in ihr Kalb kommt Glockengebimmel. Dann klappt mit einem Ruck die Türe zu. Der Zug rollt wieder an, und wo er eben noch stand, tritt auf der andern Seite eine verbeulte Telefonzelle hervor, mausgrau im Schienenschotter, darüber der weite und schwüle Himmel. Grillen zirpen. Ich ziehe mein Jackett aus und entdecke ein einziges, staubiges Strässchen, eine ferne Siedlung, flimmernde Dächer eines Dorfs. Dort zieht es mich hin. Die Kuh schnauft auf und entfernt sich samt ihrem Kalb.
Es riecht nach wildem Kraut am Weg, Grasbüschel ziehen sich wie ein Streifen in seiner Mitte hin. Über einem rissigen Fleck tanzt ein Mückenschwarm. Jetzt erreiche ich Ackerland, abgemessene Schollen, Steinhaufen liegen dazwischen, eine Grube voll weggeworfener Flaschen. Einmal mach ich einen Bogen, weil ein Kabel von einem Strommast herunterhängt. Auf einem Stück Brachland balgen sich Krähen. Schliesslich kommen die Dächer näher, vor einem Schuppen werkelt ein Mann. Als er mich erblickt, hält er inne und stützt sich auf ein altes Eisen. Ich grüsse ihn und hebe die Hand. Er öffnet seinen klobigen Mund und schliesst ihn nicht wieder.
Dicht aneinander die niedrigen Häuser am Dorfeingang, hölzern und rechtschaffen. Hinter dicken Vorhängen vermutet man muffige Stuben und genügsame Ehen. Ein einzelner vierstöckiger Betonblock. Der Dorfladen hat dichtgemacht. Ein verschossenes Plakat wirbt noch für Stumpen, die es längst nicht mehr gibt. Nichts ist übertan hier, man findet sich zurecht in einem alten Dorf. Der „Gasthof zum Sternen“ taucht auf. Zwei Gäste treten über eine Treppe ins Freie und stecken sich eine Zigarette an. Der „Sternen“ hat tatsächlich geöffnet. Da will auch ich einkehren.
Ein Hauch von Kegelbahn dringt in die schattige Stube, eine wortkarge Runde trinkt Bier. Mit Kind, Hund und Grossmutter sitzt eine Familie vor einer Landschaftsmalerei, ebenso silhouettenhaft wie die hohen und niedrigen Berge in ihrem Rücken. Ganz ohne Ton ziehen Rennautos auf einem Bildschirm ihre Runden. Ich lasse mich am Ecktisch nieder und schaue auf den Hinterhof hinaus. Ein Fahrrad liegt im Kies. Der Kellner bringt mir einen Dôle.
Ausser dem Amtsblatt gibt es nichts zu lesen hier. Ich halte es hoch gegen das Licht und höre dabei dem Gespräch der beiden Raucher zu, die zurückgekommen sind und am Nebentisch Platz genommen haben. Sie reden über einen Thriller. Kurz hat der Hund aufgemuckt und die Grossmutter hat ihn unter den Tisch verwiesen. Auf dem Bildschirm ziehen die Rennautos ihre Runden. Das Kind ist brav und gescheitelt. In einer vollgestopften Damenhandtasche liegt eine giftige Pille. Die Familie kriegt jetzt Kuchen. Nur der Vater will keinen, kehrt sich nach hinten und studiert das Landschaftsbild. Steif am Tresen steht der Kellner. Die Rennautos ziehen ihre Runden, stumm ihre Runden.
Da schlägt am Nebentisch der Mörder zu. Die Grossmutter neigt zur Seite und schläft ein. Mutter und Kind tuscheln. Auf das Fahrrad im Hinterhof tröpfelt ein leichter Regen, befeuchtet den Kies. Plötzlich wird es vom Stammtisch her laut, die Runde zahlt und verlässt das Lokal. Ein weggerückter Stuhl bleibt mitten im Raum zurück wie eine versetzte Braut. Auch ich bezahle bald meinen Wein und stehe auf, der Hund begleitet mich kameradschaftlich zum Ausgang. Im Augenwinkel seh ich einen Piloten dem Cockpit entsteigen.
Draussen nieselt es jetzt stärker. Die Luft schmeckt nach nassem Stein. Von einem Parkplatz schlägt eine Autotür. Ich steige die Treppe hinunter und richte mein Jackett. Ein Motor startet. Ich mache mich auf den Heimweg. Einen Schirm hab ich nicht.
Comentarios