top of page
AutorenbildCaspar Reimer

Ego Amok

Neulich hatte er sich dazu entschlossen, ein Egoist zu werden. Dies geschah keineswegs als Folge von Bitterkeit oder irgendwelcher Enttäuschungen. Im Gegenteil – er betrachtete seine Entscheidung als Teil einer längst fälligen Selbstermächtigung. Lange genug hatte er sich stets hinterfragt, tiefgestapelt, mit sich und der Welt gerungen und anderen Menschen in dümmlicher Unterwerfung den Vortritt gelassen. Damit sollte ein für alle Mal Schluss sein. Die Welt würde ihn kennenlernen und ihm die Füsse lecken.

Das moralische Korsett, das einer Zwangsjacke glich und ihm als Kind auferlegt worden war, riss er sich endlich vom Leib. Wer sich nicht durchsetzt, bleibt auf der Strecke, sagte ihm kürzlich ein junger Freund, der ohne Erbe oder Fleiss zum Millionär geworden war. Er wollte es ihm gleichtun. Dafür war es unumgänglich, so dachte er, sein früheres Verhalten ins Gegenteil zu drehen. Er musste also andere Menschen und Tiere auf Schritt und Tritt herabsetzen.

Der Katze, die sich genüsslich an der Frühlingssonne die Pfoten leckte und die er auf dem Weg zur Arbeit jeweils passierte, gab er einen heftigen Tritt und lachte dabei lauthals; dem blinden Mütterchen, dem er auf dem selben Weg jeweils zu begegnen pflegte, riss er den Blindenstock flink aus den Händen und schmiss ihn in die Rabatte; dem dementen Kunden, den er immer donnerstags besuchte, knöpfte er sein ganzes Geld ab und führte ihn mit Denksportaufgaben aufs Glatteis, bis dieser schluchzend in sich zusammensackte; den Haarföhn legte er bei voller Leistung auf den Balkon, um das Klima weiter zu erhitzen; giftige Reinigungsmittel und Plastikmüll leerte er in den Fluss, um die Fische aller Welt zu vergiften.


Er liess nichts aus, nutzte jede sich ihm bietende Gelegenheit, Menschen, Tiere oder auch Gegenstände mit Füssen zu treten, doch es half nichts – weder wurde er wirklich reich, noch leckten ihm Menschen die Füsse. Irgendetwas hatte er falsch gemacht, doch zurück konnte er nicht mehr. Er hatte auf die Arschkarte gesetzt und verloren. Also ging er nach Hause und hängte sich in der Garage auf. Das alte Mütterchen konnte wieder in Ruhe spazieren und die Katze wohlig an der Sonne liegen.

33 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Wintermärchen

unglück

der einkehr bedürfend, innerer sammlung und äusserster ruhe, schonung vor alltäglichkeit und briefkastenkram und allerlei ablenkungen,...

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
bottom of page