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Die Vision


Er hatte von mancher Erscheinung gehört, die gelegentlich Schlafende schreckt, von Engeln und Geistern, von Toten und Gästen aus fernen Welten, selbst auch der Mär, Gott habe sich offenbart; und nur einen Wahn oder Angeberei dahinter vermutet, jedenfalls nichts, was an Wunder das Leben an sich und das Phänomen des Traums überstieg; undenkbar, dass ihm, einem Spötter der Religion, ob sie nun Kirche oder bloss Kult, solche Vision widerfahre; doch wahrlich, ihm erschien eines Nachts seine Mutter. Seine kürzlich verstorbene Mutter.

 

Nun war es nichts Besonderes, des Traumes Blendwerk im Guten und Schlechten solange man schlief für wirklich zu halten; doch weder als Kind ein Fabelwesen, noch die Figur eines Albs in späterer Zeit, nicht einmal das schönste Trugbild erotischer Art - keine Gestalt hatte er je so leibhaftig vor sich gesehn. Beim Einschlafen kam‘s, dass ihn vermutlich ein knarrendes Holz wieder geweckt, fast so, als schliche durchs Zimmer ein Dieb. Verstört fuhr er auf und wollte schon schreien, da sass sie, innig vertraut, vor ihm auf dem Stuhl zwei Handbreit neben dem Bett.

 

Auf ihm ruhte ihr ernster, fürsorglicher Blick. Er hatte nicht seinesgleichen. Das lange Haar war nun weiss. Schön sah sie aus. Sie wirkte erlöst von der Angst, wenn auch vom Hinschied noch etwas verdutzt. Viel sprachen sie nicht, einige zärtliche Worte. Sie hatten einander und verstanden sich stumm. Ein paarmal schon war sie gekommen, zu schauen, wie es ihm ging. Allmählich wusste er’s wieder. Und dass er zu fragen vergessen, wo sie nun eigentlich lebe. Dies glaubte er sich und der Menschheit schuldig zu sein.

 

Nachdem sie nun so eine Weile beisammengewesen, er liegend zum Stuhle gekehrt, und sie Anstalten machte zu gehen, fragte er sie:

„Wohin kehrst du denn immer wieder zurück?“

Sie vermöge nicht mehr zu sagen, wo genau sich der Keller befinde, war ihre Antwort. Ihm aber war klar, dass sie einen der vielen Keller unter den Lauben der Altstadt meinte und dass ihr Geschick sie schon wieder zum rechten hinlenken werde.

„Können die anderen denn auch herkommen?“

„Die wenigsten. Die haben niemanden mehr da.“

 

Und dann war er erwacht. Zwar nicht bekehrt oder dergleichen. Doch vom Erlebten hochbeglückt.

 

 

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