top of page
Daniel Costantino

Die neue Sommerhose

Wissen Sie, wie meine Hose riecht? Wie alle meine Hosen riechen, sobald ich sie ein paar Tage getragen habe? Die Frage klingt merkwürdig, ich weiss. Aber es ist nur ein Anflug von diesem Geschmack, ein Hauch. Es ist tatsächlich so, dass meine Hosen ein bisschen nach Milchladen riechen. Nach Molkerei. Nach diesen grossen Milchkesseln, in welche die Bauern die Milch der Kühe abfüllen und mit dem Traktor in die Molkerei fahren. Das ist mir eben neulich wieder aufgefallen, ich hätt’s garnicht mehr gewusst. Ich schnüffle ja nicht alle Tage an meiner Hose herum, so ist es nicht. Aber ich hab mir eine neue Hose gekauft, eine kurze Hose für die heissen Sommertage zuhause. Wenn ich allein bin und mich keiner sieht, ich bin ja nun kein Adonis mehr mit schönen Beinen. Mit meinen dicken Waden draussen in kurzen Hosen herumlaufen, wäre meine Sache nicht. Nicht einmal als Tourist.


An die neue kurze Hose musste noch ein Gürtel. Und weil ich keinen mehr übrig hatte, hab ich kurzerhand den Gürtel von meiner gewöhnlichen Strassenhose genommen und ihn durch die Schlaufen der neuen Hose gezogen. Wenn alles einwandfrei geklappt hätte, wäre mir der Milchgeruch entgangen. Man muss der Hose mit der Nase nämlich sehr nahe kommen, sonst riecht man nichts. Oder jedenfalls nicht die Molkerei. Nein, es war so, dass der Gürtel am Ende weit von der letzten Schlaufe abstand, dass er vorne nicht mehr richtig eingefasst war. Das hat mich gestört, auch wenn ich allein zuhause war. Ich wohne nicht gern mit abstehendem Gürtel in meiner Wohnung, das wusste ich sofort. Das habe ich gar nicht erst versucht, obwohl ich schon dastand in der neuen Hose und dem vorne schräg heraushängenden Gürtel. Man sollte sich nicht vor sich selber lächerlich machen. Auch wenn einen keiner sieht.


Ich musste den Gürtel noch einmal aus den Schlaufen der Hose herausziehen und dieses zusätzliche Teil verschieben, was eigentlich auch eine Schlaufe ist, aber zum Gürtel selbst gehört und nicht zur Hose. Diese lose, verschiebbare Schlaufe, Zusatzschlaufe, die ich aus langjähriger Gewohnheit gleich vor die erste Hosenschlaufe gelegt und durch die ich den Gürtel zuerst gezogen hatte, erst nachher durch die erste Hosenschlaufe. Ich weiss nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke. Lange hätte ich es ja garnicht nötig gehabt, diese lederne Schlaufe überhaupt zu benutzen. Seit meiner Jugend habe ich nämlich ziemlich an Umfang zugelegt. Die letzten Jahre ging der Gürtel gerade noch so durch die Schnalle, dann war Schluss. Ich hab sogar noch ein Zusatzloch durch den Gürtel bohren müssen, damit ich noch einklicken konnte. Mit dem Schraubenzieher.


Da ist eigentlich diese Lederschlaufe dann überflüssig. Ist ja schon alles bündig. Nur allzu bündig. Aber ich habe sie trotzdem immer miteinbezogen. Es macht sich irgendwie besser so. Baumelt ja nichts herab. Und ausserdem geht sie nicht verloren. Nun habe ich mir aber Ende letzten Jahres doch einen neuen, längeren Gürtel kaufen müssen, es ging nicht mehr anders. Aber aus lauter Gewohnheit lege ich die Schlaufe immer noch vor die erste Schlaufe des Hosenbunds. Wo sie jetzt garnicht mehr hingehört, sondern weiter nach hinten. Es dauert halt manchmal ein bisschen, bis ich mir neue Dinge merken kann.


Eigentlich wäre ja die Schlaufe verschiebbar, ohne dass man mit dem ganzen Zirkus von vorne anfangen müsste. Den Gürtel noch einmal ganz aus den Hosenschlaufen ziehen und wieder neu ansetzen müsste. Sogar noch aus der Hose steigen muss, weil man eine Hosenschlaufe übersprungen hat und sich am Gesäss Komplikationen ergeben, die man nicht mehr überblickt. Läge sie zum Beispiel zwischen der ersten und zweiten Schlaufe der Hose, bliebe genug Zwischenraum. Dann könnte man ein bisschen daran herumfummeln, und gut ist. Oder zwischen der zweiten und dritten Schlaufe oder irgendwo sonst, nur nicht vor der ersten Schlaufe, da ist der Abstand zu gering. Da ist die Schnalle im Weg. Und der Hosenknopf. Da geht garnichts mehr.


Und als ich schliesslich dastand in der neuen Hose und dem endlich richtig sitzenden Gürtel, da war ich plötzlich verwirrt. Da ist mir durch den Kopf gegangen, weshalb ein Gürtel, der an der einen Hose bündig sitzt, an der andern herabbaumelt. Steckt doch immer mein und derselbe Bauch drin, nicht wahr? Und das ist doch schliesslich massgebend, ob ein Gürtel passt oder nicht. Oder nicht? Auch wenn der eine Hosenbund vielleicht mehr Schlaufen hat als der andere. Das dürfte doch eigentlich keine Rolle spielen. Da hatte ich aber schon völlig vergessen, dass ich ja jetzt einen neuen und längeren Gürtel habe, den ich auch schon zuvor an die Strassenhose anders habe anlegen müssen. Nehm ich wenigstens an, ich erinnere mich auch jetzt nicht mehr. Das Bild ist einfach weg. Aber es muss so gewesen sein, anders kann ich es mir nicht vorstellen. Vermutlich auch mit der ganzen komplizierten Prozedur wegen der vermaledeiten Schlaufe am falschen Ort. Aber genau das hatte ich eben ausgeblendet, wie man so sagt. Da war ich irgendwie im falschen Film. Im früheren Film, als mit dem Gürtel und der Schlaufe und der Welt alles noch in Ordnung war.


Ich musste also zum zweiten Mal wieder aus der Hose klettern, um die Sache zu untersuchen. Sie hätte mich sonst den ganzen Tag beschäftigt. Dabei wäre ich beinah noch ausgerutscht und hingefallen. Ich bin mit dem einen Fuss auf die Hose gestanden, während der andere sich noch im Hosenbein befand. Oder so ähnlich, es ging alles ganz schnell. Aber schliesslich ist es dann so gekommen, dass ich die Hose vor mir auf dem Tisch ausgebreitet hatte und mir das Ganze mal näher ansah. Und da ist mir dieser Geruch in die Nase gestiegen. Eigentlich wegen meiner Augen, ich bin kurzsichtig geworden. Oder weitsichtig. Jenachdem, wie man’s betrachtet, ich verwechsle das immer. In der Kürze liegt jedenfalls das Problem. Und eben auch die Würze. Weil meine Lesebrille gerade nicht da war, habe ich ganz nahe an die Sache herangehen müssen und halt auch meine Nase praktisch in die Hose reingesteckt. Dieser Milchladengeruch. Den ich schon als kleiner Junge immer an meinen Hosen gerochen habe. Ja, Milchladen. Und zwar schon von draussen, bevor man ihn noch betritt. Wenn vielleicht gerade ein Kunde zur Tür heraustritt. Nur so ein erster Hauch.


Damals gab es ja in unserer kleinen Stadt noch einen Milchladen, eine sogenannte Molkerei. Und sogar noch einen Milchmann. Der hatte einen kleinen Lieferwagen mit integriertem Motorroller. Das gehörte kompakt zusammen. Aus einem Guss. Damit durfte er auf den Trottoirs bis direkt vor die Haustüren fahren. Dem bin ich einmal unter die Räder geraten, weil ich mit dem Trottinett hinfiel und er mit seinem Wagen nicht mehr ausweichen konnte. Das war immer unsere Mutprobe, dem Milchmann, er hiess Herr Zürcher, im Rudel vor der Nase herumzukurven und ihn zu ärgern. Mit dem hinteren Rad ist er mir über den Oberschenkel gefahren. Und das Erstaunliche war, dass es fast garnicht weh getan hat. Allerdings sind die Milchkannen umgekippt und der Herr Zürcher hat laut geflucht. Aber mir ist nichts geschehen. Ich bin sofort aufgestanden und mit den andern zusammen geflüchtet, ehe er mir den Hosenboden strammziehen konnte. Natürlich mit dem Trottinett. Ich meine: auf dem Trottinett. Das hätte ich niemals im Stich gelassen.


Ja, dieser Milchkannengeruch. Dieser Duft nach Milchhandlung und Abenteuer. Dass ich diesen Unfall ohne Schaden überlebt habe, hat mich damals zum Helden gemacht. Es war eine schöne Zeit, die Kindheit. Obwohl: ich habe sie damals garnicht als besonders schön empfunden. Eigentlich im Gegenteil. Aber heute würde ich viel dafür geben. Es ist seltsam, wie Erinnerung funktioniert. Wie sich überhaupt Dinge im Hirn festsetzen. Die man mit andern Dingen verbindet, die vielleicht garnicht dazugehören. Zum Beispiel Hose und Milch. Wie kann eine Hose, jede Hose, nach Milchkannen riechen? Ohne dass sie irgendwann mit Milch überhaupt in Berührung kommt. Ohne dass sie überhaupt irgendwie schmutzig oder besudelt ist. Riechen Sie mal selbst an Ihrer Hose. Nicht wenn sie ganz frisch ist, da riecht sie noch nach Weichspüler und Kleiderschrank. Oder jenachdem nach Mottenkugeln. Aber wenn das nach ein paar Tagen weg ist, riechen die Fasern nach Milch, ich kann mir nicht helfen. Vielleicht verwendet man zur Herstellung von Kleidern irgendein Milchderivat, weiss auch nicht - Molke? Oder Lactose? Riecht das überhaupt? Ich habe keine Ahnung. Ich weiss auch nicht, ob Frauenhosen auch so riechen. Aber ich geh mal davon aus. Fänd ich sonst unlogisch.


Wenn man übrigens lange am Lagerfeuer sitzt, verschwindet dieser Geruch vollständig. Dann riecht die ganze Hose intensiv nach Rauch. Nur noch nach Rauch. Meine Mutter hat mir solche Hosen immer sofort weggenommen und in die Waschmaschine geschmissen. Ich weiss darum nicht, ob der Milchkannengeruch von selber zurückkäme. Ob der Rauchgeschmack wieder verschwände wie der Weichspüler. Ob eigentlich am Ende die Milch doch stärker ist als der Rauch. Das ist leider nicht überliefert. Ich sitze heute nicht mehr an Lagerfeuern und erzähle Geschichten.




32 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Wintermärchen

unglück

der einkehr bedürfend, innerer sammlung und äusserster ruhe, schonung vor alltäglichkeit und briefkastenkram und allerlei ablenkungen,...

תגובות

דירוג של 0 מתוך 5 כוכבים
אין עדיין דירוגים

הוספת דירוג
bottom of page