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Daniel Costantino

Die Irrungen und Wirrungen des Harald Welzer

Man könnte die Meriten des deutschen Professors Harald Welzer, seine Lehrstühle und Mitgliedschaften in Stiftungen und Beiräten, seine zahllosen Interessen und Publikationen seitenlang aufzählen und käme fast an kein Ende. Welzer, Sozialpsychologe, Soziologe, Kulturwissenschaftler und noch einiges mehr, gastiert seit Jahren in deutschen Talkshows und Gesprächsendungen von ZDF, ARD und NDR, sitzt bei Precht, bei Jung, bei Friedman, bei Lanz, hat in Essen geforscht, in Witten gelehrt und doziert in Atalanta, Flensburg und St. Gallen. Gelegentlich sorgt er für eine „Sternstunde“ am Schweizer Fernsehen: „Unsere Freiheit ist bedroht“ (2015), „Ist die Zukunft konservativ?“ (2019), „Die Pandemie verändert die Welt - nachhaltig?“ (2020) und „Wir müssen aufhören“, im Oktober 2021. Im selben Monat ist auf freitag.de ein langes Interview mit ihm erschienen:


Gefragt, warum er ein Buch über das Aufhören geschrieben habe, ein Lob der Kulturtechnik des Aufhörens ("Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens", Fischer Verlag), antwortet Welzer:


> Weil wir als Gesellschaft es mit Endlichkeitsproblemen zu tun haben, was nichts anderes heißt, als: Wir müssen aufhören. Der Klimawandel ist ein Endlichkeitsproblem. Wenn wir eine bestimmte ziemlich enge Spanne einer überlebenstauglichen Temperatur verlassen, dann kommt die menschliche Lebensform an ihr Ende. Artensterben ist ein Endlichkeitsproblem: Wir haben jetzt schon rund 70 Prozent der Insektenarten verloren, aber wenn wir bei 100 Prozent ankommen, ist Schluss mit den Nahrungsketten, den Bestäubungen und so weiter. Zugleich blendet aber unsere Kultur Endlichkeit systematisch aus. Wir haben kein Konzept von Endlichkeit, wir lernen nicht aufzuhören, sondern wir optimieren. Das plakativste Beispiel für das Optimieren ist die Ersetzung von fossilen Automotoren durch Elektromotoren: Wir haben offensichtlich ein Klima- und ein Verkehrsproblem, aber anstatt dass wir überlegen, welche Art der Fortbewegung wir eigentlich praktizieren möchten, machen wir mit denselben Autos weiter und optimieren nur den Antrieb. <


Viel Geschrei und wenig Wolle. Mit dem „Endlichkeitsproblem“, einem Fachbegriff aus der Linguistik, trötet Welzer ein neues Hupwort in die Debatte, das kurz aufschreckt, in sich zusammenfällt und nichts Substantielles zurücklässt. Es mit Endlichkeitsproblemen zu tun haben, mahnt Welzer, heisse nichts anderes als: Wir müssen aufhören. Womit? Das verrät er nicht, wirft uns bloss die Schlagworte Klimawandel, Artensterben und Lebensform wie Knochen vor die Füsse. Und den Elektromotor. Wer aber Fleisch will, wickle es selber drum.

Wir müssen aufhören! Aufhören mit dem zu grossen Ressourcenverbrauch, meint er das? Ein Allgemeinplatz. Oder raunt er vom Tode, der uns alle dereinst ereilt? Eine Binse der Erkenntnis, seit wir von den Bäumen gestiegen sind. Ein bisschen bedient er wohl beides, hat er doch sein Buch, diesen „Nachruf auf mich selbst“, während einer Rekonvaleszenz von einer schweren Herzoperation geschrieben, auf einer fernen Insel mit Blick aufs Meer. Schon möglich also, dass er das Eine sozusagen in abstracto ins Andere transformiert und an seiner persönlichen Endlichkeitserfahrung die Krux der ganzen Menschheit erkennt, dieser Tausendsassa mit dem Aussehen eines „Tiroler Skilehrers“ (im Vorspann zu diesem Interview), dieser Honorarprofessor für Transformationsdesign (in Flensburg).


Wir müssen also aufhören, einfach aufhören, weil der Klimawandel ein Endlichkeitsproblem sei. „Wenn wir eine bestimmte ziemlich enge Spanne einer überlebenstauglichen Temperatur verlassen, dann kommt die menschliche Lebensform an ihr Ende.“ Man merkt schon hier, wie Welzer einer ist, dessen Standpunkt, laut Vorspann, „nicht hinter abstrakten Begriffen verschwindet“, sondern „ganz direkt daherkommt“. Und dass, wer diesen Vorspann verfasst hat, entweder vom Verlagsmarketing sein muss oder nicht bei Trost.

70 Prozent der Insektenarten, redet Welzer, hätten wir schon jetzt verloren. Wenn’s denn stimmen würde! Von rund 10‘000 Insektenarten weltweit gelten 63 als ausgestorben und gegen 2‘000 als bedroht oder gefährdet. Hingegen haben Wissenschaftler an rund fünf Dutzend Standorten in Deutschland einen Rückgang von über 70 Prozent der Masse an Fluginsekten ermittelt. Bedenklich genug, aber eben nicht, was Welzer behauptet. Wenn er wirklich einmal ganz direkt daherkommt, erweist er sich weniger als Wissenschaftler denn als Hansdampf in allen Gassen.

Und Welzer redet und redet. Wir hätten kein Konzept von Endlichkeit. Wir lernten nicht aufzuhören, sondern optimierten bloss. Als Beispiel bringt er das Verkehrsproblem und gibt uns die Frage auf den Weg, welche Art der Fortbewegung wir eigentlich praktizieren möchten. Sollen wir jetzt mit dem Verkehr aufhören? Frage er doch bei den Millionen Erwerbstätigen nach in seinem Land, die trotz einer Arbeit von ihrem Einkommen nicht leben können, frage er ausserdem Deutschlands Millonen Arbeitslose noch dazu, vielleicht verraten sie ihm alle, wie sie’s denn gerne hätten, möchten am Ende gar mit dem Verkehr aufhören und zuhause sitzenbleiben. Aber frage er etwas gescheiter als mit dem Satz, welche Art der Fortbewegung sie eigentlich praktizieren möchten. Vergackeiern kann er sich selber.

Welzers Paradoxon heisst: Reduktion bei permanenter Steigerung. Eine griffige Formel, die er aber mit seinen Erläuterungen eher widerlegt als beweist. Ein Wirtschaftswachstum von soviel und soviel Prozent bedeutet doch nicht platt und plump „mehr Verbrauch von allem“. Und mehr Verbrauch von allem nicht ohne weiteres „mehr Energie für die Stoffumwandlung, um daraus Produkte zu machen“. Es gibt ja doch ein paar Dinge mehr als nur in Welzers weiten Welt, die zu „allem“ beitragen, was ein Wirtschaftswachstum ausmacht. Wenn man auch nicht umhin kommt, seinem eigenen Bereich, dem gutbezahlten Dienstleistungssektor des wissenschaftlichen Entertainments, ein bisschen mehr Energie für die Stoffumwandlung zu wünschen, die aus den vielen Zahlen und Fakten ein einigermassen geistreiches Produkt macht. Eines ohne Endlichkeitsproblem, versteht sich.


An seinen Kollegen von der Ökonomik kritisiert Welzer, in ihren Theorien funktioniere der Kapitalismus wie ein Fahrrad: „Sobald ich aufhöre zu treten, kippt das Ding um.“ Nun ist es allerdings die Idee vom Fahrrad, dass es nicht umkippt und einer ihm in die Pedale tritt. Funktioniert auf Erden aber nicht quasi alles ein bisschen wie ein Fahrrad und muss tretend in Gang gehalten werden, wenn es nicht umkippen soll, der Staat, das Soziale, die Wissenschaft? Wie soll denn ein Mensch leben von der Wiege bis zur Bahre, wenn er nicht isst, wie soll er atmen, wenn er sich nicht bewegt? Welzer sagt, er wolle eine Wirtschaftsform entwickelt sehen, „die nicht monothematisch vom Wachstum abhängig ist.“ Ist sie das „monothematisch“? Er führt eine 200‘000-jährige Menschheitsgeschichte ins Feld, in der es auch ohne Wachstum „in dem heute definierten Sinne“ gegangen sei. Er sieht das Wachstumskonzept als ein Produkt des Kalten Kriegs. Klassische Ökonomen hätten überhaupt nie von Wachstum geredet. Haben sie nicht? So ab und zu und wie nebenher? So ein klitzekleines bisschen? Ist nicht der Kapitalismus ein wachstumsgetriebenes und warenproduzierendes System von allem Anfang an, weit vor dem Kalten Krieg?

Zum Zeugen führt Welzer Ludwig Erhard an, den früheren deutschen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler, das verkörperte deutsche Wirtschaftswunder. Selbst Ludwig Erhard habe vor 60 Jahren geschrieben, die Ökonomen sollten sich überlegen, was nach dem Hyperwachstum komme. Vielleicht hat Erhard an ein kleineres Wachstum gedacht? Daran denkt aber Welzer nicht. Er denkt auch nicht daran, den Kapitalismus abzuschaffen. Als ihm vorgehalten wird, wenn wir mit dem Immermehr aufhören wollten, könnten wir auch gleich mit dem Kapitalismus aufhören, wehrt er sich für ihn. Der sei geschmeidig und könne sich veränderten „Umfeldbedingungen“ anpassen. Er würde dann also sozusagen nicht mehr wachsen? Keine Investitionen mehr? Kapitalismus ohne Mehrwert? Ein Widerspruch in sich selbst.

Wie der andere Kapitalismus, der seiner gescholtenen Kollegen, funktioniert auch Welzers Denken wie ein Fahrrad. Er hat aufgehört zu treten, da ist es auf dem holprigem Umfeld umgekippt.


Und so bäckt Welzer seine vielen Allgemeinplätzchen, seine Binsenstreusel und Parolentörtchen, dressiert sie fett mit Schwulst und Bombast und verwelzert sie nach folgender Methode: Dass alles nur mit Wachstum gehe - eine Glaubensfrage. Da hätten wir also das Plätzchen. Streusel? Bitte sehr: historisch sei es auch anders gegangen. Wie, das führt er nicht weiter aus, und man fragt sich, woher seit Adam und Eva die immer zahlreicheren Menschen gekommen sein mögen. Da welzert es schon ein bisschen. Wenn man nur in nachhaltiges Wirtschaften investiere, dann verändere sich „auf der Ebene des Geldes, nicht des Denkens“ etwas Grundsätzliches. Es werde dann nach anderen Kriterien bilanziert „als allein nach monetären.“ Nun welzerts schon ganz gewaltig. Und jetzt noch der Schwulst, heiliger Bombast! Es werde dann nämlich „gemessen“:


> Wie ist die Gerechtigkeit den Mitarbeitern gegenüber, wie ist die Gerechtigkeit gegenüber der Umwelt? Wenn in der Produktion Umweltkosten endlich internalisiert werden, nicht mehr externalisiert, das sind alles Ansätze für eine Gesellschaftsentwicklung, die sich nicht allein am Wachstum orientiert. Mir geht das wirklich total auf den Senkel, dass eine moderne, sich selber als Wissensgesellschaft bezeichnende Gesellschaft diesem Glauben huldigt, ohne ihn an relevanter Stelle infrage zu stellen. Das macht mich fertig als denkender Mensch. <


Na na na! Wie er in all diesem Bombast noch denken kann? Vielleicht wird er auch darüber einmal ein Buch schreiben. Oder hätte nicht schon der aktuelle Buchtitel statt „Nachruf auf mich selbst“ besser „Nachruf auf mein Denken“ heissen sollen? Ich glaube nicht, dass der Wachstumsglaube Welzern als denkenden Menschen fertig macht. Ich glaube, Welzer hat sich selbst als denkenden Menschen fertig gemacht. Dieses Interview bietet einem nirgendwo Ansätze, seine persönlichen Kulturausgaben so zu externalisieren, dass man sein Buch kaufen möchte.


Welzers Themen liegen auf der Strasse, sie dominieren auch, sieht man von Corona ab, die gesellschaftliche Diskussion in Zeitungen und Talkrunden seit Jahren, sogar wenn er selber nicht dabei ist. Das ist ja nichts Schlechtes, nur darf man von einem ausgewiesenen und vielgerühmten Intellektuellen erwarten, dass er sie nicht nur benennt, sondern vertieft, dass er sich mit ihnen auseinandersetzt und sie nicht bloss mit wohlfeilem Gedöns aufpeppt und mit unausgegorenen Ideen grimassiert. Und sein gestelztes Deutsch sollte er auch einmal optimieren, bevor es überhaupt aufhört, Deutsch zu sein. Einfach aufhören mit allem, „was schwachsinnig ist.“

Den Anwurf, er erzähle in seinem Buch übers Aufhören nur von privilegierten Vorbildern, die sich, anders als jemand an der Supermarktkasse, das Aufhören auch leisten könnten, wischt er mit dem Satz beiseite, die Fähigkeiten zur Realitätsbewältigung und zum Finden von Lösungen seien in allen gesellschaftlichen Gruppen gleich gross. Gewiss, aber eben nicht die Möglichkeiten, das war die eigentliche Frage. Der Interviewer, Pepe Egger, insistiert: „Wer mit 1‘400 Euro durch den Monat kommen muss, tut sich schwerer, Fleisch zu kaufen, das nicht auf Ausbeutung von Tieren und Tierleid beruht.“ Da kommt er bei Welzer aber gerade an den Rechten:


> Zweifellos. Aber auf der anderen Seite hat so jemand eine viel größere Kompetenz mit wenig auszukommen als irgendwelche Leute, die das nur postulieren und dann mit dem Ferrari zum Bio-Markt fahren. <


Wie lieb von ihm. Und gleich setzt er noch einen Welzer drauf:


> Diese ganze Argumentation ist völlig schräg, zumal sozial schwächer Gestellte immer nur dann in Spiel kommen, wenn es um Veränderungen geht. Ansonsten niemals. Wir sollten uns an das alte Modell der Ideologiekritik erinnern und solche Sachen in dem Augenblick, in dem sie ausgesprochen werden, infrage stellen. Man erkennt die Absicht und ist verstimmt. Ich möchte wirklich mal eine ernsthafte Diskussion über die Prekarisierung von Menschen in unserer Gesellschaft haben. <


Welch ein Firlefanz und Maskentanz. Man erkennt tatsächlich die Absicht, aber Welzers Absicht, und ist verstimmt. Und möchte sich nicht vorstellen, was Welzer zu einer solchen Diskussion beizutragen hätte.




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