Eine Krux ist das Leben des Kritikers von altem Schrot und Korn. Zu einer aussterbenden Gattung gehörend, blind von Geburt für die Schönheiten der Welt und besonders der Künste, taub auf beiden Ohren für alles Musikalische, ausgeschlossen von höheren Sphären und der Menschenliebe gänzlich abhold, fristet er sein erbärmliches, unfruchtbares Leben im Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit und im kurzen Rausch seiner boshaften Exzesse, zu denen die Rache am Guten und Edlen, an den schönen und sensiblen Seelen und Saiten ihn immer wieder treibt. Wer er ohne diesen atavistischen Teufel im Leib eigentlich selbst wäre in der modernen Zeit, wüsste er garnicht mehr zu sagen. Es gibt Tage, da ist er ganz mit sich im Reinen und schimpft, wenn er zum Beispiel Sprachkritiker ist, von Herzen gern auf alle ignoranten Schaumschläger und Poeten, also imgrunde auf jeden, der es wagt, etwas Literarisches zu publizieren. Das ist seine euphorische Phase. Er findet jedes Haar in der Suppe und hält es dem Autor mit ausgestreckter Hand vor die Nase. Zähnefletschend pickt er aus dem besten Text gerade die Rosinen heraus und spuckt sie angewidert dem tumben Volk ins Gesicht. Aber es kommen auch triste Zeiten und Tage, da ist er vom Zweifel besessen, vielleicht selbst der grösste Ignorant unter den Zeitgenossen zu sein. Das geschieht meist dann, wenn er auf einen Unsinn stösst, den nicht einmal er für möglich gehalten hätte, auf ein Elaborat, das seiner Meinung nach den Kitsch eines normalschlechten Textes noch weit übertrifft. Da kann ihm der Verdacht aufkommen, er werde zum Narren gehalten. Und er tut etwas, was ihm seine Ehre, oder was er dafür hält, gewöhnlich verbietet: Er sieht sich hilfesuchend nach andern Besprechungen und Kommentaren um, bevor er selber zur Feder langt und sich womöglich in der Sache vergreift. Und erschrickt fast zu Tode dabei: keine einzige negative Rezension! Lauter Lob und Ovation, nichts als eine applaudierende Sympathisantenschar! Es überkommt ihn ein unbeschreibliches Gruseln. Schlimmer noch - der Verdacht, nicht seinesgleichen mehr zu haben auf der Welt. Als der Letzte seiner Art übriggeblieben zu sein und nun mutterseelenalleine dazustehen. Und er stellt sich die bange Frage, ob wohl die Welt noch der rechte Aufenthalt für ihn sein kann. -
Aber lassen wir die Rückschau auf diesen überwundenen Typus des Menschengeschlechts und wenden wir uns etwas Erfreulicherem, nämlich der Gegenwart und ihren bedeutsamen Aspekten des Kunstschaffens und damit der modernen Lyrik zu (die Punkte zwischen den Strophen stehen nicht im Original und sind aus Gründen der strophenförmigen Darstellung im Internet von mir eingefügt):
«Apollo 11. L'una»
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Und irgendwo Inmitten dieser Krater, die eine dunkle Wut in deinen Taumel mit blindem Zufall bombte, wird im Taumel millionenfacher Blicke jetzt der Adler, der lange schon Prometheus straft, kurz landen.
. Und plötzlich sind alle Qualen wie verstummt, ist alles auf einen diesen Punkt geschrumpft, der für die Dauer eines Schrittes, die Banden zerspringen lässt, die uns gefangen halten, da Aldrin von der letzten Sprosse springt und dich berührt.
. Die Dauer eines Schrittes… … und alle Träume wurden an dir weit und glitten, wurden unbestimmt und wie beschwingt.
. Bis er die Fahne hisste Und wir uns erneut erkannten. Dochdoch, es gibt noch Künstler und Könner hienieden, und wenn mich mein Sinn nicht trügt, werden es ihrer immer mehr. Sie gehen mit der Zeit und stellen der fortschreitenden Technik ihr neu justiertes Handwerk entgegen. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren, die noch hinter dem Mond lebten, was die Wissenschaft ihrer Epoche betraf, und aus halber Kenntnis ganze Gedichtbände produzierten, gehen sie über die Tradition hinaus und schaffen, wie das Beispiel zeigt, eine Art neuromantischer Sphärencluster, ein frappantes Geflecht aus Grammatik und Heldentat, das unseren herkömmlichen Verstand weit, weit überragt und ihn wie alles Kosmisch-Elementare in Ehrfurcht versetzt. Allein schon der Titel, ein transzendentes Meisterstück im Kleinen, überschreitet die Gegenständlichkeit des sinnlich Wahrnehmbaren und betört den Leser auf unnachahmliche Weise. Apollo elftens, Apollo Punkt elf, suggestiv mitschwingend die elfte Mission und, welche Bezüge! Gott Apollo der Elfte, es ist der Hammer. Luna der Mond und l’una die Eine, welch grossartige Symbiose, symphonische Symbiose, von Sprachstil und kosmischer Potenz! Und erst die dunkle Wut, direkt in den Taumel gebombt, vom blinden Zufall in den Taumel gebombt, das nenn ich mir eine Metapher! Und wieder der Taumel, grad noch einmal in millionenfachen Blicken perpetuiert, welch grossartiges rhetorisches Insistieren! Und wie subtil, wie traumwandlerisch in Szene gesetzt, noch mit dem Mythos des Prometheus raffiniert verwoben gar, nein, das ist ein Dichterfest! Wahrlich, hier geben sich künstlerisches Genie und titanische Kraft ein kolossales Stelldichein im Mondenglanz. Es lösen sich, ach, zerspringen im Banne dieses grossen poetischen Aufbruchs die Banden, die uns gefangenhalten, und in der Erhabenheit des dichterischen Augenblicks verstummt alle Qual.
Die Dauer eines Schrittes… … und alle Träume wurden an dir weit und glitten, wurden unbestimmt und wie beschwingt.
Eine Liebeserklärung im Duktus einer überweltlichen Kraft. Die romantisch beseelten drei Punkte. Zart und unscheinbar, aber dem Kenner nicht verborgen, ein Anklang an den guten alten Reim - unbestimmt und wie beschwingt! (man beachte auch das vorherige Punkt -geschrumpft) - wie eine versöhnliche Geste, deren Charakter die letzten zwei Zeilen noch einmal betonen:
Bis er die Fahne hisste Und wir uns erneut erkannten.
Darf sie auch der hartgesottene Kritiker für sich gelten lassen, der trotz allem imgrunde Mensch unter Menschen geblieben?
Kunst auf solcher Höhe provoziert starke Gefühle und regt wichtige Denkprozesse an. Sie rührt an die letzten Dinge und Wahrheiten im Menschen. Darum will sie gut vermittelt sein, denn sie erschliesst sich nicht ohne weiteres der bürgerlichen Auffassung. Doch wir haben das Glück, in unseren Zeiten junge, gutausgebildete Journalisten zu haben, die auf kongenialer Höhe mit dem Poeten denken und fühlen. Die mitreden können, ohne sich dabei im geringsten mehr lächerlich zu machen. Das Land China, spricht der Dichter Paul-Henri Campbell, der uns obiges Gedicht zum Geschenke dargereicht, das Land China wachse über sich hinaus und zusammen. Er verrät uns auch mit diesem schönen Bild eines hoch am Himmelsbogen zusammenwachsenden Landes seine stupende Phantasie und vollbringt damit eine gestalterische Leistung, die ebenso vollbracht und fiktiv zugleich ist wie die der Chinesen, von denen er spricht. Er bindet sozusagen das chinesische Volk an die hohe Poesie. Der Interviewer Linus Schöpfer, nomen est omen, wächst insofern über sich hinaus, als er dem im Gedicht erwähnten Prometheus die Gestalt des Sisyphos hinzufügt, der einen Felsbrocken immer wieder den Berg hinaufrollen muss. Der kommt zwar im Gedicht nicht vor, aber zusätzliche Bildung kann nie schaden. Lassen wir dem einen seinen Adler und dem anderen seinen Stein, so haben wir wieder etwas gelernt. Es geht ja im Ganzen um die Motivierung nationaler Narrative und im Wesentlichen um das Vorhandensein der entsprechenden Trägerstoffe, also um eine hochgradig mythologisch-spirituelle Angelegenheit, der man besser als mit Campbells Worten nicht Ausdruck verleihen kann.
Starb der Mann im Mond nicht, als Armstrong ausstieg? Schöpfers subtile Frage schöpft aus dem Vollen intimer Kenntnis von Mythos und Raumfahrtsgeschichte und legt den grossen Schritt der Menschheit genau auf den wunden Punkt. Aber ein grosser Geist wie Campbell weiss die Dinge einzuordnen: Wichtiger als die Realisierung eines Raumfahrtprojekts ist die Odyssee dahin. Und wenn sie unter Hervorbringung von Helden gelingt, aktualisiert wiederum die Odyssee zum Mond die alte Faszination. Irrfahrten über Irrfahrten. Faszinierend, nicht? Denn es geht ja bei allem auch um die Reflexion dessen, was bis zum Ziel passiert. Es geht um die Akteure, die sich mit der Magie des Gestirns aufladen! Und diese Magie wieder zurück in ihre nationalen Erzählungen bringen! Wie der Dichter schreibt, so redet er auch. Authentizität von Wort und Schrift, alles bester, unverstellter Campbell. Alles echt neoromantischer Duktus eben.
So soll es sein!
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