Im vergangenen Sommer wurde meine Stadt von Bettlern aufgesucht. Der Anlass: Das Schnorren war behördlich genehmigt worden, was sich offenbar in entsprechenden Kreisen herumgesprochen hatte. Seither gehören die Bettler in ihrer grossen Zahl zum Stadtbild. Sie streifen tagsüber durch die florierenden Einkaufsmeilen, hocken auf einer zerlumptem Decke am Eigang des Supermarktes, treffen sich zu Pausen mit ihresgleichen, um eine geschnorrte Zigarette zu rauchen oder die Sachlage zu besprechen. Nachts schlagen sie ihr Lager an Strassenkreuzungen, in Unterführungen oder auch in Parks auf, lassen die Geschehnisse des Tages Revue passieren, zählen vielleicht die Einnahmen oder streiten sich auch schon mal.
Ich hatte die Anwesenheit der Bettler emotionslos zur Kenntnis genommen – jeder muss schliesslich zu seinem schnöden Mammon kommen und während sich die schick gekleideten Verkäufer von Smartphonezubehör alle Mühe geben, um zu vertuschen, dass es einzig und allein darum geht, mir für ein kleines Netzteil oder kabellose Ohrenstecker das Geld aus der Tasche zu ziehen, ist beim Bettler die zwischenmenschliche Sachlage ungeschminkt und klar – er will einfach Geld, zurück gibt es nichts.
Ich konnte dem Zustrom sogar eine ganz persönliche Verhaltensübung abgewinnen, eine, die ich zu meiner eigenen Überraschung sogar und mittlerweile mit einer grossen Lust ausübe – wie jemand, der nach anfänglichen Schwierigkeiten beim Erlernen einer Fremdsprache plötzlich Fahrt aufnimmt. Für eine Person wie mich, der nicht oder nur unter existenzieller Bedrohung Nein sagen kann, sind die Bettler eine hervorragende Übung – learnig by doing. Und neulich war ich überrascht, wie gut, ja sogar lustvoll es mir mittlerweile gelingt, den Bettlern einen Korb zu verpassen. Nein ist nämlich nicht Nein: Als die Bettler frisch in der Stadt angekommen waren, ging mir das Nein noch irritiert über die Lippen, meistens sehr knapp, etwas leise und mit abgewandtem Blick. Mit der Zeit wandelte sich die Irritation in Selbstverständlichkeit und ich sagte gut hörbar, aber keineswegs penetrant: Nein.
Nun sind es aber wirklich viele Bettler und um der Langeweile vorzubeugen, begann ich, bei den Begegnungen zu variieren. Mittlerweile hat sich eine ganze Bandbreite von Neins entwickelt. Da gibt es etwa das erstaunte Nein, das sagen will, was dem Bettler da einfalle und ob ich wie eine Bank aussehe. Weiter gibt es das genervte Nein, welches mit dem resignierten Nein in Wechselwirkung steht – lass mich doch einfach ihn Ruhe, es hat keinen Zweck! Dann gibt es das deutliche und unumstössliche Nein, mit Anstand, aber durchaus herrisch vorgetragen, zudem eine leichte Steigerung vom Deutlichen zum Unumstösslichen, die sich auch in der Art und Weise ausdrückt, wie ich den Bettler anschaue. Als weitere Steigerung steht das aggressive Nein, was mir relativ selten, dafür anderen Mitbürgern und je länger desto mehr passiert.
Zu meiner eigenen Scham muss ich aber gestehen, dass an diesem anderen Ende der Skala auch eine Enthemmung stattgefunden hat, womit wir beim vulgären Nein angekommen sind. Dieses ist lustvoll und hat auch mit meiner Freude zu tun, endlich gelernt zu haben, wie man Nein sagt. Dabei hatte ich neulich eine rote Linie überschritten: Dieses vulgäre Nein, das jeden Anstand vermissen lässt, kam zum Einsatz, als ein Bettler mir mit seinem noch fast leeren Becher vor dem Gesicht herumfuchtelte. In diesem Moment fielen mir Anstand und Respekt ab, ich sah dem Bettler direkt in die Augen, schüttelte den Kopf und begann hämisch, abfällig und laut zu lachen. Dabei machte ich mit der Hand eine Bewegung, als wolle ich einen ungezogenen Köter verscheuchen. Er schien wie vom Blitz getroffen, seine Gesichtszüge verkrümmten sich und er begann lauthals zu weinen. Tränen strömten ihm aus den Augen, er zitterte am ganzen Körper. Vom schlechten Gewissen überwältigt, nahm ich aus meiner Brieftasche einen grossen Batzen und liess ihn in den Becher fallen. Sein Heulen hörte sofort auf. Jetzt begann er laut zu lachen, zwinkerte mir zu und huschte davon.
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