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Daniel Costantino

Detlev von Liliencron

Aktualisiert: 12. Mai 2021

Sehnsucht


Ich ging den Weg entlang, der einsam lag,

Den stets allein ich gehe jeden Tag.

Die Heide schweigt, das Feld ist menschenleer;

Der Wind nur weht im Knickbusch um mich her.


Weit liegt vor mir die Strasse ausgedehnt;

Es hat mein Herz nur dich, nur dich ersehnt.

Und kämest du, ein Wunder wär’s für mich,

Ich neigte mich vor dir: ich liebe dich.


Und im Begegnen, nur ein einzger Blick,

Des ganzen Lebens wär er mein Geschick.

Und richtest du dein Auge kalt auf mich,

Ich trotze, Mädchen, dir: ich liebe dich.


Doch wenn dein schönes Auge grüsst und lacht,

Wie eine Sonne mir in schwerer Nacht,

Ich zöge rasch dein süsses Herz an mich

Und flüstre leise dir: ich liebe dich.

______________________________


Ein gutes Gedicht ist ein Beitrag zur Wirklichkeit. Die Welt, solcherart bereichert, nicht mehr, die sie war. Was für Zeiten noch, als man die Welt bereichern konnte und Detlev von Liliencron 1883 dieses Gedicht publizierte! Romantische, neoromantische, naturalistische, egal, waren sie nicht alle zeitlos gut und zeitlos schön?

Bitte sehr: das Gedicht ist ein Ausbruch. Wie geschliffen. Feinste Künstlerhand. Das Versmass makellos, an und für sich ja schon Kunst, Kreation, Gestalt. Und dieser Humor, kann ihn nicht jeder verstehen? Was für ein Unterschied zu allen mediokren Künstlern seit dazumalen, Dichterlingen, Tintenpissern! Welch bezauberndes Sentiment!

Ich brauche dazu garnicht mehr zu sagen, würde es zerreden, zertreten, schweige zur sensiblen zweiten Zeile der ersten Strophe, schweige wie die Heide und das menschenleere Feld, schweige zu sämtlichen zweiten Zeilen. Man ist sich ja als Leser ihrer nicht würdig!


Welche Stilmittel wählt der Dichter, fragen die Lehrer die Schüler anhand eines solchen Gedichts. Eines jeden Gedichts. Wie lautet das Versmass? fragen sie weiter. Und lassen Silben und Reime und Erbsen zählen. Und die Frage klären: Wer, wann, was und wo. Et fini la musique. Und wem von der Klasse sich die Liliencronsche Grandezza nicht aufderstelle überträgt, der bleibt, was er ist: ein simples Gemüt, das sich in Gottes Namen für Höheres im Leben nicht interessiert.



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