Zu seinem Erstaunen kam er wieder auf die Beine, als Einziger unter lauter Leichen, und wollte aufbegehren, protestieren, ihnen „Mörder!“ ins Gesicht schreien, wankte ihnen sogar entgegen, den Erstbesten zu packen; doch der sprayte ihn einfach nieder, bevor er noch den Mund aufmachen konnte. Was war er auch für ein Narr, sich mit ihnen anzulegen, totstellen hätte er sich sollen von allem Anfang an, als sie plötzlich das Abteil stürmten und alle erschlugen. Zitternd aber war er aus seiner Nische hervorgekommen und hatte sich mit einem Sprung aus einem Fenster retten wollen. Es liess sich nicht einmal öffnen. Da war er zusammengesackt, ob von einem Schlag oder aus eigener Schwäche hätte er nicht zu sagen gewusst, nur noch sein Sterben im Kopf, den Tod nun auch für sich selbst.
Mit schweren Eisen hatten sie draufgehauen und mit kurzen, dumpfen Schüssen vernichtet, was sich noch regte. Nur ihn hatten sie verschont, ihn bloss ausser Gefecht gesetzt, und jetzt, wo er sich erneut aufrappelte, übersahen sie ihn und machten sich davon. Im Abteil herrschte entsetzliche Stille. Die Toten lagen in den Bänken, über die Lehnen gebeugt, in Blutlachen am Boden. Und keinen einzigen hatte er schreien gehört, hatte nur das Aufschlagen der Eisen auf Metall vernommen, wenn ein Schlag sein Ziel verfehlt, und die dumpfen Schüsse. Und er hatte sehen müssen, wie die Körper aufgezuckt und nach hinten gekippt waren und andere sich verkrümmt, verstreckt, noch eine Bewegung versucht hatten, bevor sie wie taube Klötze fielen.
Lange starrte er von einem zum andern und rührte sich nicht. Endlich übergab er sich, und das belebte ihn ein wenig. Vorsichtig an den Toten vorbei stakste er durch das grauenhafte Abteil, stieg aus dem Zug, ohne sich zu fragen, warum er stillstand und in den andern Wagen nichts vor sich ging; doch eine Spraydose, die vom Trittbrett gefallen war, die hob er auf und steckte sie in die Tasche. Weit und breit war es menschenleer. Über einer flachen Ebene stand stechend die Sonne. Ein paar Grillen zirpten. Oder sein Schädel brummte. Von den Gleisen führte nur ein staubiges Strässchen zu einem Haus, das von ferne flimmerte. Als er sich langsam näherte, sah er tanzende und torkelnde Menschen davor, die auf einmal innehielten, merkwürdig lärmend auf ihn zukamen, um ihn herumsprangen und ihn in ihren Kreis schlossen. Es waren geistig Behinderte.
Im Hause gab es kein Telephon, nichts dergleichen. Sie konnten ihm auch nicht recht sagen, wo er sich befand. Aber sie machten sich, die ihn wie für einen Bruder nahmen, auf die Suche nach Papier und einem Griffel. Er wollte das Vorgefallene aufschreiben, es eilte. Er war sehr erschöpft. Seine Erinnerung wurde schemenhaft. Wenn er jetzt in Ohnmacht fiel, war sie hernach vielleicht ganz verschwunden. Er holte die Spraydose aus der Jackentasche. Es stand der Name eines Geschäfts darauf. Das konnte später eine wichtige Rolle spielen.
Als sie ohne Schreibzeug mit leeren Händen wieder dastanden, beschloss er, sich auf den Weg zu machen. Er musste sich bewegen, durfte auf keinen Fall einschlafen hier. Irgendwo gab es bestimmt einen Hof in der Nähe oder ein Dorf mit einem Polizeiposten. Doch sie wollten ihn nicht ziehen lassen. Ob es ihm denn nicht gefalle hier? Sie waren herzensgut. Erst als er ihnen sagte, er müsse jetzt zur Arbeit gehen, lenkten sie ein und gaben ihn frei. Fröhlich winkten sie ihm nach. Und traurig winkte er zurück.
Aber er verlor sich im Gelände. Statt auf eine Siedlung zu treffen, geriet er in eine unwirtliche Gegend, wo bald kein Weg mehr, kaum noch ein Strauch zu sehen war. Je weiter es ging, desto weniger tat er von selbst. Die Einöde lief an ihm vorbei. Er fühlte sich leicht und ohne Last. Am Horizont verschwammen die Konturen, der Boden verschmolz mit der Luft. Die Geschehnisse hatten keine Bedeutung mehr. Und alles löste sich auf.
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