Vor ein paar Tagen geht mein Wecker auf einmal eine Viertelstunde hinterdrein. Ausgerechnet im dümmsten Moment, ich musste frühmorgens zum Arzt. Ein Arbeitstier übrigens, ein Workaholic, wie er im Buche steht. Kaum ist er um sechs in der Praxis, behandelt er schon drei Patienten simultan. Mein Termin war um halb sieben, ich hab’s gerade noch geschafft. Hätte ich nicht zufällig beim Durchlesen meiner Mails auf die Uhr im Computer geschaut, ich hätte mich heillos verspätet. Man kann ja mal eine Minute zu spät kommen, finde ich, aber gleich eine Viertelstunde! Als ich über Mittag wieder zuhause war, hab ich den Wecker richtiggestellt. Gegen zwei will ich weggehen, da fällt mir auf, dass er schon wieder eine Viertelstunde nachhinkt. Ich korrigiere nochmals. Vor dem Abendessen, es sind über fünf Stunden vergangen, mache ich die Kontrolle - wieder eine Viertelstunde Verspätung. Ich korrigiere. Vor dem Insbettgehn: genau eine Viertelstunde zurück! Am nächsten Morgen: eine Viertelstunde zurück! Und so immer weiter, es ist nicht zu glauben. Es spottet jedem Verstande Hohn.
Der Wecker müsste nach menschlichem Ermessen einmal mehr, einmal weniger im Rückstand sein. Auch nach physikalischem Ermessen. Oder sagen wir: nach wissenschaftlichem, ich verstehe nichts von Physik. Je nach der Zeit, die in der Zwischenzeit vergeht, in der ich nicht hinschaue. Er könnte sich auch entscheiden, auszuplempern und ganz stehenzubleiben. Aber selbst dann, wenn er seine Ausfälle nur ab und zu hätte, müssten sie sich doch mit der Zeit addieren. Ob ich ihn nach zwei Stunden überprüfe oder nach acht Stunden Schlaf, ist doch wohl ein Unterschied. Es wäre denn, er mache seine Ausfälle zwischendurch wieder wett und falle dann wieder hinter sich selbst zurück. Das wäre schon sehr speziell. Und irgendeinmal müsste ich ihn dabei ertappen.
Ich beobachte ihn dauernd. Fünf Minuten nach der Korrektur ist noch alles gut. Auch nach zehn Minuten noch. Er zuckt mit keiner Wimper. Nach einer halben Stunde ist es schon vorgekommen, dass er eine Viertelstunde hintergeht. Plötzlich eine Viertelstunde hintergeht. Ruckartig. Kann aber auch sein, dass er noch lange richtig läuft. Viertelstunde oder richtig. Ich schaue kurz hin, schaue lange hin, stehe zehn Minuten vor ihm auf der Lauer - nie erwische ich ihn bei der Umstellung. Es geschieht alles hinterrücks.
Ich begreife ja vieles im Leben nicht. Ich habe auch keine grossen Ambitionen mehr. Man könnte mich noch einmal in die Schule stecken, ich würde nach den neuen Methoden nicht einmal mehr das Aufsatzschreiben lernen. Aber als vor ein paar Jahren mitten in der Nacht meine Bücher im Gestell zu zittern begannen, ganz leicht, wie Teetassen auf ihren Tellern, habe ich sofort gewusst: ein Erdbeben! Und eine Ehrfurcht, das schon, aber keine Angst davor gehabt. Hierzulande ist ein Erdbeben nicht so schlimm, das wusste ich, das stand dann auch anderntags in der Zeitung.
Vielleicht verhält es sich ähnlich wie mit den Büchern auch mit meinem Wecker. Die Erdachse hat sich ein wenig verschoben, so zwei, drei Millimeter, was weiss ich. Ein Klacks fürs grosse Ganze, davon sterben keine Dinosaurier aus. Aber im ganz Kleinen und Verborgenen, in meiner kleinen finsteren Mietwohnung, wo in der hintersten Ecke auf einem wackligen Nachttisch mein alter Wecker steht, da macht’s eben was aus. Seltsam aber wäre dann immer noch, dass nur mir etwas auffällt. Auch andere Leute haben doch ihre wackligen Nachttische.
Oder sagen die einfach nur nichts? Gibt es die anderen Leute eigentlich? Gibt es überhaupt die Welt vor meinen Augen? Oder gibt es nur eine Welt hinter der Welt, und da sitzen sie alle feixend zusammen? Nur wenn ich hinschaue, tun sie schnell so, als wären sie da, wie mein Wecker, der immer richtig läuft, wenn ich ihn beobachte. Ich werde aus der Täuschung erwachen wie aus einem albernen Traum.
Ein Wassertropfen fällt ins Meer und ist kein Wassertropfen mehr. Ich liebe, ich lebe, und doch ist, was ich greifen will, nicht zu greifen. Wenn ich den Tisch zerlege, an dem ich sitze, geht er als Tisch verloren und ich sitze im Leeren. Und wer bin ich denn selbst? Ein bisschen Schaum überm Meer. Ein wenig Gischt, wenn der Wind bläst. Die Wirklichkeit ist ein grober Unfug. Alles Denken nur Trug. Jede Wissenschaft eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Die ganzen Religionen und Philosophien. Es gibt keine Evolution und keine Geschichte und nichts. Meine Sinne führen mich nur hinters Licht.
Mit jedem Atemzug lebt sich das Leben zu einer Illusion. Das ganze milliardenfache Fressen und Gefressenwerden. Es gibt keine Tiere und keine Meere und keine Natur. Es gibt weder Sommer noch Winter und schon gar nicht gibt es ein Klima. Vom Urknall bis zum Fussballspiel lauter faustdicke Lügen. Es kommt einmal alles an den Tag.
Ein letztes Mal will ich’s noch versuchen mit dem Jux. Ein allerletztes. Ich habe dem Wecker eine neue Batterie eingelegt, das war vor sechs Stunden. Er läuft immer noch richtig.
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