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Daniel Costantino

Der Traum von Taschkent

Aktualisiert: 17. Juni 2021

Es muss ein Traum sich, wenn sein Wirt stirbt, schleunig eine neue Bleibe suchen, sonst geht er selber ein; verwaiste Träume verenden so rasch wie ein Mensch ohne Sauerstoff. Nun stehen den schönen und guten, die andern finden ihren eigenen Schlich, zwar all die vielen Seelen offen, die wenig träumen oder schlecht; doch prüfe auch ein solcher Traum, an wen er sich bindet. Dem Erstbesten sich in die Brust zu legen, ist schon manchem schlecht bekommen. In einem Fall aber weiss ich ein gutes Ende für beide Seiten zu berichten. Er hat sich erst kürzlich in Taschkent zugetragen.


Einem Gastdozenten für Luftfahrt nämlich, der sich seit kurzem in der Stadt aufhielt, geschah das Unglück, nachts im Schlaf erschossen zu werden. Der vergnügte, verwegene Traum, der ausser der Kugel noch in ihm steckte und ihn ein letztes Mal die Freuden des Daseins hatte erleben lassen, der wusste sofort, was ihm die Stunde geschlagen hatte, ganz anders als der Tote; denn Tote begreifen garnichts mehr. (Die Frage, ob ein Ableben im Augenblick der Verzückung nicht vielleicht doch ein grosses Glück ist, wollen wir nicht erörtern. Der Dozent hinterliess Frau und Kind.)


Unser Traum war ein wenig wählerisch; ein Vorteil, wenn man Musse, ein Nachteil, wenn man keine Zeit hat. Mit Kollegen, die Karriere machen, und Phantasiegebilden mit nichts als Yachten und Zaster im Kopf wollte er nicht in Berührung kommen und sich keinesfalls dem Innenleben eines Menschen verschreiben, den solche Plagen heimsuchen. Gottlob war es Nacht, und die Taschkenter Träume zeigten alle ihr wahres Gesicht. So schlüpfte er denn aus der Leiche heraus und machte sich auf die Suche. Es eilte sehr.


Der erste Träumer, auf den er traf, kehrte von schweren Strapazen erschöpft nachhause zurück, froh, sich endlich hinlegen und ausruhen zu können, denn er wähnte sich wach. Vor seiner Haustür hatte sich eine Menschenschar versammelt, standen lauter unbekannte Leute, traten von einem Bein aufs andere und zwängten sich, da er jetzt aufschloss und eintrat, hinter seinem Rücken hinein und folgten ihm alle ins Treppenhaus nach. Hier tummelten sich aber ihrer noch mehr. Sie sassen zu Haufen am Boden, fläzten sich ans Geländer und verstopften den ganzen Aufstieg. Manche schwenkten kleine Fahnen. Sperrangelweit stand oben die Wohnungstür offen. Die Frechsten hatten sich mit einem Bier in der Hand aufs Sofa gesetzt.


Nein! entschied sich blitzschnell unser Traum. Mit diesen Gesellen ist kein Kirschenessen. Und machte sich auf und davon.


Er begegnete einer Neunzigjährigen; die hatte eben ihre Grossmutter und deren Schwiegermutter kennengelernt und sass mit den beiden Damen unter einem Sonnenschirm in einem mondänen, bis auf den letzten Platz gefüllten Strassencafé. Es gab Kuchen und einen schönen Likör. Im Schaufenster hing ein Poster von der Monroe samt ihrer originalen Unterschrift, und aus dem Innern des Lokals drang die warme Stimme eines Tenors. So bunt das Treiben der Flaneure, Händler und Strassenbahnen um die bejahrten Gäste herum auch war, so idyllisch weidete auf der gegenüberliegenden Seite, wo im Schatten zwei stolze Bauernhäuser standen, auch eine Herde Kühe und trug eine Magd einen Kessel zum Brunnen.


Das gefiel unserm munteren Traum zwar schon besser; bloss war die Dame schon neunzig… „Nein!“ rief er aus, „ich will nicht schon bald wieder umziehen müssen!“ Sprach‘s, und eilte davon. Ein klein wenig Zeit hatte er noch. Aber nur ein klein wenig.


Doch ob’s am Wetter lag, das plötzlich umgeschlagen, oder an Umständen, die selbst einem Traum nicht einfallen – Taschkent hatte unversehens aufgehört zu träumen. Kaum war der Traum dem Café entflohen, standen die Strassen dunkel und wie leergefegt. Es war keine Menschenseele mehr da. Traumlos lagen die Bewohner in ihren Betten, stumm und ohne Blick. Wie fieberhaft er auch überall suchte, er fand einfach keinen Anschluss mehr. Traurig schleppte er sich in einen Hinterhof und legte sich in den finstersten Winkel, um still wie ein altes Tier sein Leben auszuhauchen. Aber da geschah ein Wunder.


Ein kleiner Junge stiess ihn an. „Hey du, kannst du mir zeigen, wie ich fliegen kann?“ Der Traum, eben noch in den letzten Zügen, war sofort hellwach. „Aber gerne“, antwortete er, sprang auf die Beine und schnippte mit den Fingern. Der Hof perlte in strahlendem Licht. „Zeig mir einmal, was du schon kannst.“ Das liess sich der Kleine nicht zweimal sagen. Er kletterte auf eine hohe Mauer, die mit jedem Armzug höher und höher wuchs, stand weit oben auf einen vorspringenden Sockel, breitete mutig die Arme aus, als wären es Schwingen, und segelte in wackligem Bogen hinunter, wo er mitten auf dem Hof zu Boden plumpste. „Hast du dir weh getan?“ fragte erschrocken der Traum. „I wo!“, entgegnete der tapfere Kleine, aber er rieb sich doch ein wenig den Hintern dabei. Da nahm ihn der Traum in die Arme, hob ihn mit einem sanften Stoss in die Luft und trug ihn über die Dächer der Stadt und weit über die Ebene hinaus bis an ein mächtiges Gebirge heran.


Der Kleine war begeistert. Noch nie hatte er die Berge so schön gesehen. Breit öffnete sich unten ein Tal mit den saftigsten Wiesen. Eine Wolke flog daher und schaukelte ihn wie eine schaumige Wanne. Er jauchzte vor Freude. Dann kam er auf einen Felsen zu sitzen und lauschte dem pfeifenden Wind, der wild über die Kuppen und Mulden strich. Schliesslich hob ihn der Traum wieder auf, und im Flug ging es zurück nach Taschkent, das dem Knaben am Himmel turmklein und wie eine Spielzeugstadt erschien. Sanft setzte er diesmal auf dem Boden des Hinterhofs auf. Die Reise war zu Ende.


„Nun muss ich dich verlassen“, sprach der Traum, „gleich wirst du geweckt. Aber ich komme wieder, versprochen. Du musst nur immer so einschlafen wie heute Nacht, auf dem Rücken und mit dem Blick zum Fenster hin.“


Der Kleine hob die Hand von der Bettdecke und winkte ihm zu. Doch der Traum war schon in die Morgendämmerung hinaus entschwunden.


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