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Daniel Costantino

Der Tod im Pissoir

Auf einmal war er da wie ein Zeichen des Morgengrauens. Ein sanfter Ruck durchbrach ihn und hiess ihn umfallen hier im Pissoir, entblössten Geschlechts, wie er gezeugt. Die Drangsal hatte ein Ende. Ja, umfallen hier und tot sein, nichts sprach dagegen. In die geflieste, weite, vor seinen Augen schon flimmernde Wand versinken wie eine Blume im Meer, und ausser Verblühen war nichts gewesen, Verblassen, Verstummen.


Die grelle Neondiele, der Geruch im Raume, die öffentliche Preisgabe. Das Wort Bedürfnisanstalt fiel ihm ein, wie eine Metapher für den Zwinger irdischen Aufenthalts. Er lächelte. Und löste sich auf wie eine Wolke, deren Konturen sich verändert im Laufe der Zeit, die wechselnde Farben bekannt und nun endlich in der Ferne verpuffte, von gräulichen Streifen durchzogen wie die weisse Wand vor ihm, die immer grösser wurde.


Sie wuchs ins Unendliche. Schwebende Mauer, gasförmig sich blähender Stein. Und er, Rest einer Seele, kreisend, kippend, Wurm, wurde aufgesogen und schrumpfte auf einen Handteller zusammen, kleiner noch, merkwürdiger noch, als sähe er sich schon am Boden liegend als Leiche, sich selbst da liegen und bedauern. Empfinden, merkte er, und es war eine Leichtigkeit, eine Freiheit in ihm, nach der er zeitlebens vergeblich gesucht, empfinden war nun kein Fühlen mehr und kein Denken, sondern etwas, das um ihn herum war und sich ausserhalb seiner selbst ausbreitete, auflebte, die Flügel spannte, oder gar er selbst war, in voller und ganzer Kraft nun endlich er selbst und gar nichts anderes mehr.


Und die ihn entdeckten, erschauderten. Der Erste wich erst zögerlich zurück, drehte sich dem Ausgang zu und schlich von dannen. Doch als er draussen war, begann er nach einem Arzt zu rufen und rannte fuchtelnd ins gegenüberliegende Lokal. Die Zweite, nur ein paar Augenblicke später, eine Putzfrau, liess ihren Kessel fallen, kreischte auf und schritt dann in einem halben Bogen vorsichtig um ihn herum, und da die gekachelte Wand nicht wich, im selben Bogen wieder zurück.


Und die Heiterkeit nun, die ihn ausfüllte und emporhob wie einen satten Ballon, erhob ihn auch über die Peinlichkeit der Vorstellung und über das beinahe obszöne Interesse einiger Gaffer, die hinzutraten wie schnüffelnde Hunde und aber schnell von der Frau verscheucht waren, die sich, eine schützende Mutter, vor das stellte, was von ihm noch am Boden lag.


Doch hier, hoch oben, war der Tod ganz selbstverständlich. Tröstlich erschien er ihm, und versöhnt war er mit dem Leben. Gerade zur rechten Zeit, dachte er noch oder bewahrte er noch, und dann war er von allem Erinnern getrennt und war alles vorbei.





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