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Daniel Costantino

Der Papagei von Lumpentroey

Eine Räubergeschichte aus alter Zeit


Habt ihr den Namen Lumpentroey schon einmal gehört? Nein? Das wundert mich nicht. Lumpentroey ist ein längst vergessener und versunkener Ort. Er wurde vor langer Zeit einmal von Menschen bewohnt, aber aus Gründen, von denen noch die Rede sein wird, verlassen und nie mehr besiedelt.


Wer in der Geografie bewandert ist, weiss vielleicht, dass es im Kanton Bern das Stockhorn und die Stockhornkette gibt, und dass ganz zuhinterst, hinter sieben Bergen, die fast so hoch sind wie das Stockhorn selber, eine verwitterte Ruine liegt. Es ist noch heute die kälteste Ecke weit und breit, und kaum ein Mensch verirrt sich dorthin. Und falls doch ein paar Wandervögel an einem Sommertag vorbeikommen, wenn auch dort oben das Eis geschmolzen ist, so versuchen sie die alte Inschrift zu entziffern, die auf einer holzigen Gedenktafel steht und auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Mit viel Fantasie lässt sich gerade noch der Name Lumpentroey erraten. Aber dass hier Menschen gehaust haben sollen, lässt sich nicht mehr erkennen.


Dort also lag Lumpentroey und wurde einstmals, als es noch keine Autos und wenig gepflasterte Strassen gab, als keine Post und keine Eisenbahn und noch nicht einmal die Schule erfunden war, von Ganoven und Vaganten erbaut, von liederlichen Lumpen, die etwas ausgefressen hatten. Das will heissen, sie hatten etwas verbrochen und mussten sich dort hinten vor der Polizei verstecken. Die Polizei nämlich hatte man schon erfunden. Im Bernbiet nannte man sie damals die Landjäger. Ihre Methoden waren unzimperlich und weitherum gefürchtet, und wenn sie einen Tunichtgut geschnappt hatten, wurde er bei Wasser und steinhartem Brot in ein finsteres Loch gesteckt, aus dem einer oft nur wieder herauskam, um am nächsten Galgen aufgehängt zu werden.


Vielleicht kennt ihr den Ausdruck lichtscheues Gesindel? Er stammt nämlich genau aus jener Zeit und aus dieser Gegend, weil Diebe und Einbrecher im Verborgenen ihr Unwesen treiben, damit niemand sie sieht, und sich nach der Tat verstecken, dass keiner sie finde. Lumpentroey, wo nur ganz selten, an wenigen Tagen im Jahr, die Sonne hinkam, war eine ideale, gastlose Gegend, sich vor dem Zugriff der Landjäger zu schützen und eine Zeit lang dort hinten zu hausen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Das ist auch ein Wort, das die üblen Kerle von Lumpentroey erstmals gebraucht hatten, dass nämlich über eine Sache, gemeint war natürlich eine krumme, eine kriminelle Sache, Gras wachsen könne. In Lumpentroey wuchs nicht alle Jahre das Gras, nur in einem besonders warmen Frühling. Die Ganoven nahmen es als Zeichen, sich lange genug da hinten versteckt zu haben, dass ihre Missetaten in Vergessenheit geraten wären, und mischten sich wieder unters Volk in den Städten und unter die anständigen Leute.


Die langen, nicht nur im Winter bitterkalten Tage und Nächte verbrachten sie mit einem Glücksspiel, das sie Tarot de Marseille nannten. Es wurde mit Karten, oft auch mit sogenannten gezinkten Karten gespielt, und jeder versuchte, den andern übers Ohr zu hauen. Und weil also der eine den andern betrog, gab es fast nach jedem Spiel eine wüste Schlägerei, dass die Fetzen flogen und manch einer ein blaues Auge oder gequetschte Rippen davontrug und Blut hustete. Am Anfang spielten sie mit dem Geld, das sie andern Leuten abgestaubt hatten, mit Goldtalern und Berner Batzen und Louidors, mit Dukaten und Silberlingen und sogar mit echten Goldkörnern, die Nuggets hiessen. Mancher verzockte dabei sein gestohlenes Vermögen und versuchte es dem Gewinner heimzuzahlen, indem er ihn nachts ausraubte und ihn, wenn es brenzlig wurde und der Bestohlene darob erwachte, auf seinem Strohlager einfach erschlug.


Einer der Kerle, ein gerissener, bärtiger Rabauke, ein echter Galgenvogel, der bisher alle nächtlichen Anschläge überlebt hatte, die ihm und seinem Geld galten, und seinerseits jeden erschlug, der sich seinem Vermögen auf weniger als drei Schritte näherte, hatte eines Tages eine gute Idee, die er nach reiflicher Überlegung seinen Kumpanen vortrug: „Hört mal, ihr alten Penner“, sagte er zu ihnen, „wir sind hier oben, um uns vor dem Galgen zu retten und nicht, um uns alle gegenseitig umzunieten. Wäre es also nicht gescheiter, wir spielten nicht mehr um unser eigenes gutes Geld, sondern nur noch um Spielgeld? Die Aussicht, dass ihr alle am Leben bleibt, würde sich deutlich erhöhen, wenn ich mich nicht schwer irre!“ Spach’s und zog dreimal kräftig an seiner Pfeife. „Ja“, erwiderte ein anderer, den sie alle das Hinkebein nannten, weil er seinen linken Fuss nachzog, seit er einmal auf der Flucht aus sieben Metern Höhe aus einem Fenster gesprungen war, „wo du recht hast, hast du recht, du alter Spitzbube“, und er gab sein heiseres, krächzendes Lachen dazu: „Chä-chä-chä-chä-chäch!“ Die übrigen grunzten zustimmend und pflichteten ihm bei, und die, welche nichts sagten, nickten bedächtig mit ihrem Ganovenkopf, und so wurde beschlossen, aus alten Steckbriefen, die ihr eigenes Räubergesicht zeigten, kleine Schnipsel zu machen, die das Kleingeld, und etwas grössere und ganz grosse, die das grosse Geld darstellten. Damit war die Ruhe in Lumpentroey wiedereingekehrt, und seine Bewohner lebten in der Zeit, die sie hier verbrachten, einigermassen in Frieden und vertrugen sich so schlecht und recht, wie es unter Halunken eben ging.


Eines kalten und wolkenverhangenen Tages nun hatte einer einen Papagei mitgebracht, einen schönen, rot und gelb und blau gefiederten Papagei mit einem weissen und krummsäbligen Schnabel. Er hatte ihn bei seinem letzten Einbruch mitgehen lassen, mehr aus der Not allerdings denn aus Absicht. Er war nämlich eines Nachts in ein Herrenhaus eingebrochen – das waren früher im Bernbiet, vorallem um die Stadt Bern herum, grosse Häuser mit viel Garten und Umschwung, einem Park und manchmal gar einer kleinen Landwirtschaft. Sie gehörten ausnahmslos reichen, alteingesessenen Berner Familien, die oft nicht das ganze Jahr hindurch in ihren Herrenhäusern wohnten, sondern sie nur als Sommerresidenz benutzten. Unser Räuber nun, in der Annahme, das Haus stünde leer, brach in einer bitterkalten Winternacht ein, in der Stein und Bein gefroren war und er davon hatte ausgehen können, die reiche Familie sei in ihre viel wärmere und besser heizbare Stadtwohnung umgezogen. Natürlich rechnete er damit, dass das ganze Jahr hindurch immer jemand im Gesindehaus wohnte, das wusste er aus einschlägiger Erfahrung.


Das Gesindehaus war ein kleines Häuschen ganz am andern Ende des Parkes, wo die landwirtschaftlichen Angestellten der gnädigen Herrschaft, eben das Gesinde, auch im kalten Winter ausharren und etwa die Tiere, Rösser, Hühner, Gänse füttern musste und die Hecken zu stutzen und die Bäume zu pflegen und gar viel zu fällen und zu holzen hatte, wenn es nicht wie die Bettler unter der Brücke erfrieren wollte. Es hatte überhaupt ein hartes Los, gehörte zum armen, rechtlosen Volk und wurde für seine treuen, meist lebenslänglichen Dienste von der Herrschaft nicht einmal bezahlt, sondern hatte mit Kost und Logis und den Kleidern, die man ihm gab, Vorlieb zu nehmen. Damit fuhr es aber immer noch besser als die ärmsten Einwohner der Stadt, die wenig zu beissen hatten und nicht selten vor Hunger oder an Krankheit und Seuche zugrunde gingen. Heute ist das natürlich alles anders geworden, selbst der niedrigste Stallknecht kriegt seinen Lohn und seine Altersrente, hat eine Krankenversicherung und ein paar Wochen Ferien im Jahr zugute. Die Herrenhäuser indes sind in unserer modernen Zeit weitgehend verschwunden, haben der Entwicklung und einer neuen Stadtplanung weichen müssen. Wo sie einstmals standen, fahren jetzt Autokolonnen vorbei und stehen Wohnblocks und Hochhäuser oder Einkaufszentren. Nur noch wenige gibt es, die erhalten geblieben und zu öffentlichen Parks oder zu Musikschulen und Museen umgestaltet worden sind.


Item – das Gesinde, das wusste unser Dieb genau, wohnte nicht im Herrenhaus selber, sondern ein gutes Stück davon entfernt, in der entlegensten Ecke des Anwesens, und wenn er vorsichtig genug wäre, so dachte er, und ein Stück Wurst im Hosensack dabei habe, um den Wachhund zu bestechen, der vielleicht Lärm machen und angeben wollte, so dürfe er es wagen und sei die Gelegenheit günstig. Also beschloss er eines Nachts, das Ding zu drehen und in das Haus einzubrechen.


Aber oha! Da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zwar war der Wachhund mit den Meistersleuten in die Stadt gezogen und unser Filou, froh, keine Händel mit ihm zu haben, sah sich schon in aller Ruhe seine Schäfchen ins Trockene bringen; aber ein gewisser Junker Andreas, der älteste Spross aus dem gutbetuchten Hause, hatte zwei Tage und anderthalb Nächte bei einem Trinkbruder durchgezecht, und weil ihm in seiner Weinseligkeit der Nachhauseweg ganz ungeheuerlich vorgekommen war und die schwankende Strasse, die sich ihm unter eisigen Windstössen zur Stadt hin wellte und wölbte wie die wogende See, und er ob des doppelten Vollmonds bis auf die Knochen erschrak, der hinter mächtigen Wolkenfetzen hervorbrach und wie ein monströses, eiterndes, grässlich hinundher schielendes Augenpaar das nächtliche Firmament entstellte, so hatte er in einem rettenden Einfall das Anwesen seiner Familie aufgesucht, das ihm glücklich gerade am Wege lag und wo er erst seinen Rausch ausschlafen wollte, bevor er sich wieder vor seinen Vater zu treten getraute. Es wäre trotzdem alles gut gegangen für unseren Einbrecher, denn Junker Andreas schlief, wie man sich vorstellen kann, den tiefen Schlaf des Erschöpften und Gerechten, und keine zehn Pferde hätten es mehr zustandegebracht, ihn aus dem Bett zu reissen.


Wenn nur nicht sein Papagei gewesen wäre, den er immer bei sich hatte und auf seinen Schultern trug, wohin er sich auch begab, und der sogar die Zechrunden und die Nächte an seiner Seite verbrachte. Der Vogel nämlich, als knarrend die Türe ging und ein kühler Luftzug ins Haus kam, war sofort hellwach und hörte die vorsichtigen, tapsenden Schritte des Missetäters, und als der, auf der Suche nach kostbarem Tafelsilber und etwaigen Kleinodien, mehr zufällig als wissend die Schlafkammer betrat, fing er aus voller Kehle an zu krächzen und zu kreischen und schauerlich mit den gestutzten Flügeln zu schlagen. „Kroaa, kroaa, der Dieb ist da!“ pflartschte er mit weit aufgerissenem Schnabel so laut und plötzlich in die stockfinstere Nacht, dass der Dieb, als hätte ihn der Donner gerührt, fast tot umgefallen wäre und es ihm kalt den Rücken hinunterlief. „Dieb ist da, Dieb ist da! Kroaa, kroaa!“


Mit einem Ruck richtete sich der Junker im Bett auf, spitzte die Ohren wie ein aufgeschreckter Hase im Feld, kippte dann kerzengerade wieder nach hinten ins Kissen zurück und kehrte sich glucksend und übellaunig auf die andere Seite. Man hörte ihn mit schwerer Zunge etwas vollkommen Unverständliches murmeln, dann vernahm man ein gehässiges Schnauben und Grunzen, ein Rupfen und Zerren und Wühlen, als suchte ein wütender Hund nach seinem Knochen, und schliesslich einen Grunzlaut wie aus der Tiefe einer unheimlichen Höhle. Endlich aber war nichts mehr zu hören und das ganze Rumoren schlagartig unter dem Dachbett erstickt, das sich der Junker über beide Ohren gezogen hatte. Ohne sich noch einmal zu regen, war er in seinem Dusel wieder eingeschlafen. Ein silberner Strahl des Mondes, der hinter einer Wolke hervorgekommen war, leuchtete gerade auf die Stelle, wo sein Wuschelkopf um Haareslänge aus den Bettfedern hervorlugte.


Doch der Papagei, immer noch nicht zur Ruhe gekommen, begann wieder zu randalieren und rauschte auf die Bettstatt zu und fing an, mit seinem Schnabel auf Kissen und Decke einzuhacken und zu –picken: „Kraa-Lumpenpack! Lumpenpack! Lumpenpack!“ krakeelte er nun mit so durchdringend heiserer Stimme, dass er seinen Meister doch endlich wieder aus dem Schlaf gerissen hätte, wenn der Dieb nicht mit raschem Entschluss den Vogel gepackt und in seinen Gaunersack gestopft hätte. „Mpnpck! Mmm! Mpnpck!“ schnarrte und würgte es noch dumpf aus dem Sack heraus, aber schon hatte der Dieb mit seiner tierischen Beute das Haus verlassen und der beschwipste Junker die Sache vergessen wie einen bösen Traum.


Dieser Papagei eben war mit unserem Dieb schliesslich nach Lumpentroey gekommen. Sein falscher Besitzer wusste, dass er einen hohen Preis aus ihm herausschlagen konnte, denn ein solcher Vogel war seinerzeit nicht nur bei uns eine ausgesprochene Rarität. Es gab damals in ganz Europa nicht mehr als eine Handvoll Leute, die überhaupt einen Papagei hielten. Er gedachte ihn deshalb auf dem Gaunermarkt bei Antwerpen feilzubieten, wenn die Zeit und eine günstige Gelegenheit gekommen wäre, sich nach Flandern abzusetzen. In der Zwischenzeit aber hatte der Vogel sich unter dem Pack so gut eingelebt und war auch seinem neuen Meister derart ans Herz gewachsen, dass der unter gutem Zureden und allerlei Aufmerksamkeiten seiner Genossen die geplante Reise immer wieder verschob. Ja, der Papagei wurde von den wilden, rauen Kerlen, die mit ihresgleichen sonst so grobianisch verfuhren, zärtlich geliebt. Sie blühten auf in seiner Nähe, und manch griesgrämigem Rüpel schlich ein Lächeln in die Furchen seines verschlagenen Gesichts, wenn der Papagei seine Kapriolen vollführte oder ihm gar etwas wegstiebitzen wollte. Sie fütterten ihn und kraulten ihm das Gefieder, sie spielten und schäkerten mit ihm herum und brachten ihm nach und nach neue Wörter aus der Gaunersprache bei. Es kam so weit, dass er sogar einen Witz erzählen konnte, und ich würde ihn hier auch gerne weitergeben – doch leider ist er dermassen anstössig, dass ich mich unter gesitteten Menschen nicht recht dafürhalten darf.


Hingegen habe ich nachzutragen, dass Lumpentroey aus ein paar wackligen, schlechtgezimmerten Holzhütten, einem klobigen Schuppen und einem Steinbrunnen bestand. Jeder der ansässigen Gauner genoss Stubenrecht in allen Hütten, aber nur eine konnte man richtig gut und beidstöckig heizen, und es liegt auf der Hand, dass man gerade hier abends zusammenkam und Tarot spielte, grossspurige Reden hielt und hübsch vaterländisch dazu fluchte, wie es sich für richtige Banditen gehörte, und bis in die Nacht hinein becherte und einander bei flackerndem Talg- und Kerzenlicht wüste Geschichten erzählte. Oft hatte man gar wenig zu beissen und zu schlucken hier oben, aber wenn einer mit reicher Beute von einem Raubzuge heimkam, so dauerte es nicht lange und es wurde ein grosses Gelage veranstaltet und man ass und verzehrte, was man zwischen die Zähne kriegen konnte, eine gemauste Bauernhamme, viel zähen, aber gesunden Berggeisskäse und eine Bären- oder Wildschweintatze dann und wann. Und natürlich schnapste man und güllerte und betrank sich über den Durst, wenn es mit dem Nachschub klappte.


Es war ein solcher Tag und eine solche Nacht in Lumpentroey. Einer war angekommen, der hatte drei fette Gänse mitgebracht und gute Wurst, und ein paar währschafte Pullen voll Apfelschnaps hatte er auch dabei. Hey, war das ein Erleben! Der Gansbraten wurde mit blossen Händen verschlungen, der Schnaps reihenweise herumgereicht und mit grossen Schlucken aus der Flasche getrunken. Die verkommenen Gestalten johlten und grölten, dass die Wände zitterten und nicht einmal der Wind sich mehr getraute, ums Haus herum zu blasen. Grässliche Schwaden schwarzen Tobaks hingen wie schwere Tücher über den Köpfen und frassen sich ins wurmstichige Holz. Die pfotigen Tarotkarten wirbelten durch die abgestandene Luft und kriegten russige Flecken, und wer eine Partie gewonnen hatte, den bewarf man mit dem ganzen Spielgeld, dass er wie ein gerupftes Huhn im Papierregen stand. Alles lachte und gluckste und tobte, und auch der Papagei kicherte so heiser und ordinär er nur konnte. „Larifari Lumpenpack! Lumpenpack! Krächächächä-chääch!“ Und da lachten und lärmten sie alle noch mehr, und einer nahm einen Haufen Spielgeld in beide Hände und warf es auf den Vogel, der sich darin schüttelte und aufführte wie ein begossener Pudel. Man begann nun, die schlimmsten Lieder und Moritaten anzustimmen und sie so ungehobelt laut und misstönig zu singen und zu brüllen, bis es im Tal unten die braven Bauern vernahmen, die schon lange geargwöhnt hatten, am Berg oben würde es manchmal spuken. Aber so ein Poltern und Krachen war noch nie dagewesen. Und wie der Wind die Melodien zerfetzte und in schauerlichen Bögen zu Tale trug! Da meinten sie, alle bösen Geister seien los, und verriegelten in der Angst um Hab und Gut die Türen und Fenster. Und je wüster die Räuber sangen, desto toller gellte der Wind. Und der, welcher die Gänse gebracht hatte, nahm den Papagei, setzte ihn auf die Schulter, stand auf den Tisch und vollführte unter brausendem Applaus einen wilden Indianertanz mit dem amüsierten Tier.


Aber gerade wenn der Spass am grössten ist, ist das Unglück meist nicht weit. So geschah es auch in der selben Nacht, als etwas passierte, das dem Flohnerleben in Lumpentroey ein jähes Ende bereitete. Einer der Halunken hatte nämlich, in der Absicht, die vom vielen Verschütten glitschige Schnapsflasche festzuhalten, sein verpopeltes Nastuch hervorgeklaubt, und dabei war ihm ein gestohlenes Goldkorn aus dem Hosensack gepurzelt. Der Papagei hatte dies gesehen und es für eine Baumnuss gehalten. Eine grosse, gelbe, ölig glänzende Baumnuss, das war seine Lieblingsspeise! Nichts tat er lieber, als mit seinem Schnabel auf ihr herumzuhacken und sie so lange zu zerstückeln, bis er sie mit Wohlbehagen verschlingen konnte. Wie ein Raubvogel stürzte er sich auf die vermeintliche Nuss und schnappte sie dem Halunken vor der Nase weg. Damit kam er aber gerade an den Rechten. Alles konnte der Papagei mit ihm tun, ihn schrecken, ihn piesacken, ihn foppen und verlachen, aber sich an seinen Nuggets vergreifen – das liess er sich auch von einem Papagei nicht bieten. „Du verflixter hohler Quasselkopf“, fuhr er auf, und seine Säufernase schwoll bedrohlich an, „du vermaledeiter Satansbraten!“ Und er geriet so ausser sich, dass er Tisch und Stuhl zur Seite stiess, die Schnapsflasche am Halse packte und mit irrem Funkeln, die Flasche hocherhoben, auf den Papagei zuwankte. Der kriegte es mit der Angst zu tun, schlug in wilder Panik die Flügel und konnte sich grad im letzten Moment noch mit einem Hupfer auf den Fenstersims vor der heruntersausenden Flasche retten. Das dicke Glas zerschellte nun an einer Tischkante statt auf seinem armen Kopf und flog in tausend Scherben zu Boden.


Das versetzte den Halunken erst recht in Rage. Wie ein torkelnder Faun kam er auf den Sims zu und holte mächtig mit seiner Pranke aus und wollte den Vogel mit blosser Faust erschlagen. Doch wieder verfehlte er sein Ziel. Der Papagei war blitzschnell noch einmal ausgewichen und mit einem einzigen Satz auf die Anrichte gesprungen und mitten auf einem Teller voll abgenagter Gänseknochen gelandet und hätte sich darob fast noch die Beinchen verknickt. Die ganze fürchterliche Wucht der Faust aber ging auf den leeren Fenstersims nieder und traf die milchige Glasscheibe, die mit stiebenden Funken zerbarst. Jetzt waren all die andern Hallodri, denen der Schreck gehörig in die Glieder gefahren, in der Angst um das Leben ihres Lieblings aufgesprungen und versuchten mit Festhalten und Dreinschlagen den Halunken von weiteren Taten abzuhalten. Es entstand eine fürchterliche Keilerei, in deren Folge der Papageienschänder zu Boden gerissen und unter der Last der auf ihm Liegenden fast erdrückt worden wäre. Diese Gelegenheit nutzte der schlaue Vogel zur Flucht und hüpfte, ehe sich’s einer versah, durchs offene Fenster ins Freie hinaus.


Die andern, als sie das sahen, rappelten sich auf und lösten sich vom Lumpenhaufen, packten jeder eine Fackel von der Wand und setzten sie mit den Kerzen in Brand. Dann stürzten sie fast alle miteinander zur Tür und rissen sich schubsend und stossend noch einmal zu Boden und versengten sich beinahe Hemd und Haar mit den lodernden Fackeln. Doch endlich gelangten sie unbeschädigt nach draussen und machten sich daran, den Vogel wieder einzufangen. Nur der Schänder war zurückgeblieben und sass fluchend auf seinem Hintern und rieb sich die gequetschten Knochen. Aber die andern, da sie in der windigen Nacht auch mit den Fackeln nicht weit sehen konnten, teilten sich in alle Richtungen auf und suchten im grossen Umkreis jeden Busch und jeden Strauch ab und den Vogel mit Rufen und zärtlichen Lauten anzulocken. Der ganze ungeheuerliche Hang flackerte und irrlichterte wie ein Gespensterreigen. Es wisperte hier und huschte da, es rutschte und kollerte und huhute allenthalben, als wären verwunschene Wichtel und Kobolde am Werk gewesen. Der Wind blies mit hohlem Jaulen vom Berg her und roch nach verbranntem Pech. Im Tal unten schlugen die Hunde an, die Tiere im Stall begannen zu stampfen und zu brüllen, die verschreckten Mütter holten die Kinder aus den Betten und bargen sie zitternd in ihrem Schoss. Die Bauern, die schon ob des wüsten Gesanges kaum geschlafen hatten, packten die Mistgabeln und traten entschlossen vor den Hof. Der Sigrist war im Nachthemd auf die Strasse gestolpert und unter Bekreuzigungen zur Kirche geeilt und läutete nun sämtliche Glocken. Das Volk kam auf die Beine und sammelte sich auf dem Dorfplatz wie zusammengetriebenes Vieh. Der Pfarrer in seinem langen Rock eilte hinzu und versprengte geweihtes Wasser. Der Landjäger, ein fettes und trutziges Mannsbild, schwang seinen Stock und gemahnte im ganzen Tumult mit lauter Stimme vergeblich zur Ruhe.


Unterdessen hatte der Halunke, fuchsteufelswild nun auch gegen seine Kumpanen, die ihn verprügelt und samt und sonders die Partei des Papageis ergriffen hatten, das Räuberhaus mit den Kerzen in Brand gesteckt. Die alte Hütte am Berg oben prasselte und loderte wie trockener Zunder, und meterhoch standen die Flammen, als wogten die stürmischen Fluten des Meers. Da brachen die morschen Balken des Dachs und barsten im Feuerspiel, die knittrigen Wände ächzten und fielen entzwei, der Schornstein kippte und sackte seitwärts herab auf den sengenden Boden, und die ganze elende Hütte krachte zusammen und begrub den Schänder unter den glühenden Trümmern. Aber das entfesselte Feuer frass sich immer weiter und sprang auf die andern Hütten über, und bald stand der ganze Weiler in hellen Flammen.


Da begriffen die Bauern im Tal, was es geschlagen hatte. Das konnten keine Gespenster sein, die den Brand gelegt hatten, keine echten Gespenster vermochten das. Das mussten Menschen sein aus Fleisch und Blut, und jetzt konnten sie sich auch erklären, was es mit den merkwürdigen Dingen für eine Bewandtnis hatte, die in der Vergangenheit immer wieder vorgefallen waren und ihnen Rätsel aufgegeben hatten. Da waren prächtige Hammen über Nacht aus dem Rauchfang verschwunden, Hühner und Gänse plötzlich weggekommen und mancher Geldbeutel beim Öffnen wie von Zauberhand geleert. Einer verdächtigte den andern des Raubs, aber nie brachte eine Untersuchung etwas Stichhaltiges zu Tage. Die Stimmung im Tal hatte sich wegen der Freveleien nachhaltig verschlechtert, und die Bauern waren nicht mehr gut aufeinander zu sprechen. Nun aber, da ihnen ein Licht aufging, standen sie zusammen und bildeten aus den mutigsten eine Gruppe und schritten, mit Mistgabeln und schweren Eisen bewaffnet, in der aufkommenden Morgenröte den Berg hinan, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Zuhinterst keuchend und prustend der Landjäger mit seinem Knüppel, der ihnen mit grosser Mühe folgte.


Was aber war mit unserem Papagei geschehen? Der hatte sich zu den nahen Felsbrocken geflüchtet und war auf dem schiefrigen Boden herumgerutscht und hatte sich bald in Klüften und Spalten, bald in einer Senke oder einer kleinen Grube versteckt, je wie ihm die Kerle mit ihrem flackernden Licht nahegekommen waren und ihn mehr als einmal fast aufgestöbert hätten. Obschon sie ihm wohlgesinnt und gut zu ihm gewesen waren all die Zeit in Lumpentroey, ängstigten ihn die Fackeln zu sehr, die jäh die stockfinstere Nacht durchbrachen und wieder in ihr verschwanden, als dass er sich hätte einfangen lassen wollen. Die schleichenden und knirschenden Schritte, das Geröll, das sich unter den nahenden Tritten löste wie brechendes Eis und da und dort den Hang hinuntekollerte, das plötzliche Schimpfen und Poltern, wenn einer ausrutschte und sich den Fuss vertrat – das alles war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen und aus dem Unterschlupf hervorzulocken. Das Goldkorn hatte er glücklich in seinem Schnabel behalten und trotz all den Schrecknissen nicht fallen gelassen. Als er aber in einer kleinen Mulde seine Zuflucht genommen hatte, war ihm einer der Kerle ohne es zu ahnen so nahe gekommen, dass sein Tritt ihn beinahe erreicht und zu Mus zerstampft hätte. In seiner Angst hatte er sich wie ein Igel zusammengezogen und die Federn gesträubt, und dabei war ihm das Goldkorn in den Hals geraten. Hätte es ihm nicht die Kehle zugeschnürt, wäre gewiss sein angstvolles Krächzen um Hilfe zu hören gewesen. So aber kam nur ein dumpfes Würgen aus seiner Brust. Der Atem stand ihm still, sein Herz klopfte und raste wie ein Trommelwirbel, und das arme Geschöpf rang stumm mit seinem Leben. Endlich hatte er das Gold, das er nicht zu erbrechen vermochte, mit letzter Kraft hinuntergeschluckt. Da wurde ihm schwarz und schwindlig vor Augen, er kippte zur Seite und lag wie tot in der Mulde, wo sie am tiefsten war. Sein Verfolger, dem es vage vorkam, als habe er ein Geräusch vernommen, suchte die Stelle haargenau ab, konnte aber in den Spalten und Vertiefungen des Gesteins mit seiner Fackel nichts erkennen. Und da es ruhig blieb und er keinen weiteren Laut mehr gewahrte, glaubte er, er habe sich getäuscht und wandte sich raschen Schritts von der Stelle ab und einer andern Richtung zu. Das Licht flackerte über den wehrlosen Vogel hinweg und liess ihn wie ein Stück Aas im Elend zurück.


Unterdessen war es früher Tag geworden. Die Natur, die sich im nächtlichen Frost so rau und abweisend gegeben hatte, zeigte von Osten her ein sonnig und freundlich heraufdämmerndes Morgengesicht. Der Raureif auf den Fluren im Talboden wollte schon tauen, vom niederen Tann lösten sich die ersten Tropfen. Die Bauern und Mannen des Dorfes waren bergan gestiegen und dem rätselhaften Flackern und Treiben immer nähergekommen. Über dem Felshang stieg im hohen Morgenrot der Rauch aus den Trümmern von Lumpentroey und verzog sich allmählich zum Himmel. Vom langen Suchen müde geworden, hatten sich die Räuber rufend und winkend in der Heiterung des Tags über einem Tobel zusammengefunden und ihre Fackelstümpfe an einen Haufen geschmissen. Dass ihr Lumpentroey in Schutt und Asche lag, hatten sie im steten Abwärtsgang noch gar nicht mitbekommen. Da standen sie nun bei einem Steinklotz und hielten Rat und beschlossen das Ende der Suche. Eine kurze Rast wollten sie sich vor dem Aufstieg zu den Hütten noch gönnen. Aber kaum hatten sie sich auf den Klotz gesetzt und gähnend die Glieder gereckt und mit ihren Händen zu knacken begonnen, kamen die Bauern, die sich vorsichtig an ihre Stimmen herangepirscht hatten, von unten her um die Ecke gebogen und traten ihnen mit ihren Gabeln entgegen. Eine solche Rauferei, wie sie jetzt entstand, hatte die ganze Gegend nicht erlebt. Mit wütenden Stichen hieben sie auf die verdutzten Räuber ein, dass denen bald das Fleisch in Fetzen hing. Keiner, er mochte sich wehren und sträuben, wie er wollte, entging dem Hinterhalt. Und ob noch ein paar in der Not nach den Fackelstümpfen griffen und sie wie lächerliche Waffen erhoben, es wurde ihnen samt und sonders der Garaus gemacht. Sie wälzten sich am Boden und winselten wie verprügelte Hunde und flehten um Gnade, wenn sie noch konnten. Schnaubend und prustend kam der Landjäger zuletzt, sah die Bescherung und gebot der Keilerei im Namen des Gesetzes Einhalt. Ob tot oder lebend, die Räuber wurden allesamt verhaftet und an ihrem Schlafittchen ins Tal geschleift. Was sich aldann noch regte und lebte vom Pack, wurde nach kurzem Prozess an den nächsten Galgen geknüpft.


Der Papagei wurde am anderen Mittag entdeckt, als eine Schar kräftiger Jungmannen, vom Landjäger hinaufbefohlen, auf den Ort stiess, wo das grosse Feuer ausgebrochen war und Lumpentroey gestanden hatte. Sie bargen den toten Banditen aus den immer noch schwelenden Ruinen und banden ihn auf eine aus Stecken und Stofffetzen notdürftig gezimmerte Bahre. Sie hatten eben begonnen, die Trümmer beiseite zu räumen und in den Aschenhaufen nach Gegenständen zu stochern, die unversehrt geblieben waren. Da hörten sie auf einmal ein dünnes, klägliches Plärren, das von der Stelle kam, wo der Schornstein lag. Der Papagei nämlich, als er von seiner Ohnmacht erwacht und halb tot und erfroren aus der Mulde hervorgekrochen war, hatte den neuen Tag in stillem Frieden vorgefunden und den Landstrich vom nächtlichen Spuk befreit. Aber er fühlte sich elend und verloren und vom Hunger geplagt. Beim Gedanken an die Banditen, die so gut zu ihm gewesen waren, wurde ihm wind und weh. Da nahm er, verzagt und tapfer in einem, den beschwerlichen Weg unter die Beinchen und hüpfte und stakste bergan, immer von einem Stein zum andern, bis er ganz erschöpft oben angekommen und zu den verkohlten Hütten gelangt war. Als er nun vor der Katastrophe stand und auf die Zerstörung sah, verliess ihn aller Mut, und er wusste in seinem Elend weder ein noch aus. Da hatte er die zerzausten Federn eingezogen und war ins schützende Kaminrohr gekrochen, im Glauben, sein letztes Stündchen habe geschlagen und er müsse jämmerlich da oben verenden.


So fanden ihn schliesslich die wackeren Mannen und retteten ihm das Leben. Der Landjäger, auf dessen Posten der Papagei nach einigem Hin und Her gekommen war, zog seine Erkundigungen nach dem fremdartigen Vogel ein, und es dauerte eine geraume Zeit, bis ihm aus der fernen Stadt Bern der Junker Andreas als sein rechtmässiger Besitzer gemeldet wurde. Das ganze Dorf, das ihn liebevoll gefüttert und verhätschelt hatte, nahm Abschied vom Papagei, als der Junker hoch zu Ross am Dorfplatz erschienen war und seinen verlorenen Vogel in die Arme schloss. Die beiden hatten noch ein langes, frohes Leben, und es gebrach ihnen an nichts, bis sie beide hochbetagt, der Vogel zuerst, in Frieden starben.


Das ist die Geschichte der Räubersiedlung Lumpentroey und ihres jähen Endes. Wundersamerweise hatte es dazu nicht mehr bedurft als eines einzigen Goldkorns, das ein Papagei mit einer Baumnuss verwechselt hatte.

Im Andenken an den teuren Freund und zu Ehren der Wissenschaft liess der steinalte Junker das Tier ausstopfen und vermachte es testamentarisch seiner Stadt zum Geschenk. Noch heute kann man den Papagei im Naturhistorischen Museum besuchen. In einer Glasvitrine steht er stolz und prächtig da, den vorwitzigen Schnabel in die Höhe gereckt. Zu seinen Klauen liegt das Goldkorn, und vor der Vitrine stehn auf einem Schild die schlichten Worte:


DER PAPAGEI VON LUMPENTROEY





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