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Daniel Costantino

Der neue Nachbar

Über leere Luft und grosse Töne


Meinen neuen Nachbarn hör ich immer pfeifen, wenn er nach Hause kommt. Er steigt aus dem Lift, macht zwei drei Schritte geradeaus und wendet sich dem Korridor zu, der zu seiner Wohnung führt. Und erst da, wenn er ungefähr neben der Mauer um die Ecke biegt, fängt er an mit Pfeifen. Aber eigentlich könnte man auch sagen, er tut fast nur so, als ob er pfiffe. Er macht eine schlenkernde Bewegung im Handgelenk und lässt die Finger zappeln. Dann bläst er wie ein Hans Guck-in-die-Luft ein paar kurze Töne übers Treppengeländer hin, mehr Luft als Pfiff, ohne rechte Melodie und Intervall. Und doch horch ich jedesmal hin, wenn der Lift kommt. Am Aussteigen ist noch kein Unterschied zu merken, theoretisch könnte da jeder kommen. Die Entscheidung fällt an der Mauer: wenn hier nicht gepfiffen wird, ist’s eine meiner beiden Nachbarinnen, die ich ausserdem habe, die pfeifen nämlich nie. Nur er alleine tut’s, bis er vor seiner Wohnung mit dem Schlüsselbund rasselt. Beim Eintreten hüstelt er dann höchstens noch ein wenig. Und auch dieses Hüsteln, fällt mir auf, ist wie sein Pfeifen nur so obenhin vorgetragen, irgendwie verlegen, als wollte er einer Verkäuferin im Laden unauffällig bedeuten, dass die Reihe nun an ihm sei.

Zuletzt schliesst er mit rechtem Schwung die Türe, und gleich darauf herrscht wieder Ruhe im Treppenhaus. In den langen Gängen nichts als Schweigen. Du spürest kaum einen Hauch.


Ich will mich über meinen Nachbarn nicht beschweren, um Gottes willen, er ist ein feiner Kerl. Er kann sogar richtig gut pfeifen, er hat auf der Strasse unten schon eine tadellose Traviata gegeben. Nein, wovon ich reden will: dass der Mensch immer wieder Dinge tut, ohne sie recht zu tun. Ob einer nun weiss, was er will, und sich über allem Tun dabei vergisst, oder ob er gar nicht merkt, wie ihm geschieht. Das fängt schon beim Denken an, ich selber bin das beste Beispiel dafür. Wie oft kann ich nicht sagen, was ich meine. Obwohl ich weiss, was ich meine, kann ich’s nicht denken. Und kann ich’s denken, ist es weg, bevor ich es sage. Es ist mir sogar schon passiert, dass ich etwas sage, das ich von mir nie gedacht hätte. Und dass ich es hinterher gar nicht so meine, wie ich es nicht gedacht, aber gesagt habe. Oder dass ich überhaupt etwas sage, das sich nicht einmal denken lässt.

So bin ich Traviata, aber vergesse die Töne. Und bin ich die Töne, vergesse ich, Traviata zu sein. Doch bin ich in den Intervallen der galaktischen Lichtjahre auch ein Garnichts, so weiss ich mir für mein Körnchen Misston immerhin ein kleines schattiges Plätzchen hienieden.


Dass einem Vorsatz keine Tat oder nur eine kümmerliche folgt, die seinen Ernst in Frage stellt und vom Zufall nicht zu unterscheiden ist, wie schnell hat sich ein solcher Brauch eingeschlichen. Und unversehens ist ob einer Kümmerlichkeit eine Erwartung enttäuscht, ein heimlicher Groll geboren, eine Mücke zum Elefanten herangewachsen und so viel Geschirr zerschlagen, dass ein ganzer Porzellanladen zusammenbricht. Das könnte meinem Nachbarn und mir nie passieren. Wenn ich auch in meiner Wohnung manchmal etwas laut bin, er bleibt die Ruhe in Person. Und sehr kultiviert. Ich glaube sogar, er ist Pazifist. Er muss ein Pazifist sein. „Der Weltfriede“, sagt er nämlich immer, wenn wir uns im Hausgang begegnen und ich mich beknirsche, weil ich wieder mal zu laut Musik gehört habe - „der Weltfriede beginnt im Treppenhaus!“ Und klopft mir freundschaftlich auf die Schultern. Oder sagt er, der Weltfriede beginne in der Waschküche? Jetzt weiss ich’s nicht mehr. Jedenfalls liegt in unserem Hause der Weltfriede sozusagen treppauf, treppab auf der Lauer und scharrt ungeduldig mit den Hufen. O liesse sich von allen Treppen und Hintertreppen der Welt dasselbe sagen!


Still, es geht der Lift! Ich hör’s im Schacht rumoren. Zweimal schlägt unten die Lifttür zu, schlägt zu und springt einen Spalt breit wieder auf: pam-padam. Jetzt hält das Räderwerk für einen Moment den Atem an. Es liegt etwas Erwartungsvolles darin, fast wie in der Morgendämmerung, kurz bevor es tagt. Dann drückt einer auf den Knopf, und der erste Vogel pfeift. Die ganze Mechanik setzt sich in Bewegung, das vertraute Ziehen und Sausen. Ich verstehe nichts von Technik. Tatsächlich hält der Lift jetzt auf meinem Stock, mit einem gedämpften Bremsen. Schritte auf dem Flur. Aber kein Pfeifen! Kommt da wer zu zweit? Es raschelt, es zögert vor meiner Tür... ein zwiefaches Murmeln... ha, man klingelt!

„Gutentag. Darf ich mich vorstellen: Hugentobel. Das ist meine Kollegin, Frau Zeuthen. Wir sind von der Bewegung für direkte Politik. Haben Sie schon von uns gehört? BfdP, richtig! Sie kennen sich aber aus! Wir haben uns viel vorgenommen im neuen Jahr. Oh ja, Sie sagen es, es ist auch ein Wahljahr. Überall hört man heutzutage von der Politikverdrossenheit, nicht wahr. Darum wollen wir den Wähler wieder ernst nehmen und ihn endlich dort abholen, wo er ist. Kommen Sie mit auf einen Spaziergang durchs Quartier?“

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