Eigentlich müsste ich eine Meinung haben, zu fast jedem Thema. Schliesslich lese ich Zeitungen und die braucht es, um, wie man sagt, sich eine Meinung zu bilden. Doch irgendwie scheint mein Gehirn anders zu funktionieren, als dies beim aufgeschlossenen, stets informierten Bürger der Fall ist: Je häufiger ich die Zeitung zur Hand nehme und Artikel lese, desto mehr verschwindet das, was man auch nur im Ansatz als eine eigene Meinung bezeichnen könnte. Im Gegenteil: Die eigene Idee, die ich zu einem Thema entwickeln könnte, sie ersäuft zwischen den Zeilen und unter den Buchstaben der endlosen Zeitungsseiten. Ich gebe mir die Mühe und lese Zeitungen, die einer unterschiedlichen politischen Ideologie zugeordnet werden können – die WOZ und die NZZ etwa. Vielleicht brauche ich einfach etwas mehr Kontur. Doch auch da kommt bei mir nicht mehr als ein «Stimme vielleicht zu» oder «Könnte etwas dran sein» heraus. Und wenn ich dann doch eine Meinung haben muss, weil es die Tischrunde so verlangt, genehmige ich mit ein paar Gläser Rotwein und lese, bevor der Besuch kommt, jene Zeitung, die zu eben dieser Tischrunde passt. So bin ich aus dem Schneider. Und jeder denkt, ich hätte eine Meinung.
Der Meinungstäuscher
Aktualisiert: 12. Mai 2021
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