top of page
Daniel Costantino

Der Lieblingsphilosoph

Dann und wann, manchmal frühmorgens, gelegentlich spät in der Nacht, vertiefte er sich in die Schriften seines Lieblingsphilosophen, nicht ohne schlechtes Gewissen, dass er ihn immer wieder für Wochen und Monate aus seinem Leben verbannte. Er hätte schon einen guten Grund dafür nennen können, nämlich den Willen, im Denken, auch in seinen Themen, eigenständig zu bleiben und nur weniges Fremdes aufzunehmen. Und nahm er es auf, so mit dem dankbaren Gefühl, er habe durch den andern endlich etwas verstanden, was er bisher nur verschwommen geahnt habe. Gegen das meiste Übrige, was nicht blosser Zerstreuung diente, sträubte er sich, als wär’s eine unbekömmliche Speise. Mit nichts wollte er zu tun haben, was nicht seinem Wesen entsprach, und was er dafür hielt, bot ihm den einzigen Halt. Der Täuschung, sein Denken sei darum unabhängig und frei, überliess er sich allerdings nicht. Doch nur durch die List, sich einzig zu wähnen, erschien es ihm möglich, wirklich zu denken und überhaupt etwas Rechtes zu tun auf der Welt. Die geistigen Dinge mussten sich ausserdem langsam wie Lebewesen, nicht selten über Jahre entwickeln, und sie waren in die eigene Sprache zu bringen, aus ihr heraus zu schöpfen, sonst war das Gedachte und schien er sich selber nichts wert. Die an jeder Hausecke propagierte Aufforderung, sich flugs eine Meinung zu bilden und stündlich und täglich auf dem Laufenden zu sein, galt ihm jedenfalls nichts. Was hatte es mit Denken zu tun, stets eine parate Meinung wie einen Trumpf aus dem Ärmel zu schütteln!


Aber sein schlechtes Gewissen rieb sich daran, dass er sein Leben nur zwischendurch einigermassen konsequent führte. Zu häufig verfiel er dem Schlendrian und trieb mit dem Lauf der Dinge dahin. Pflegte er in jungen Jahren zu lesen, was ihn gerade interessierte und ohne Gewissensbisse manchmal auch nichts, so kam es ihm unterdessen nahezu als eine Überheblichkeit vor, wieder an eine vernachlässigte Lektüre anzuknüpfen und sich ein Verständnis dafür anzumassen. Was konnte es Eitleres geben, als sich an einer grossen Sache nur gütlich zu tun, ohne mit harter Arbeit sein Leben nach ihr zu richten. War ein Denken denn etwas wert, dem aus Faulheit das Handeln nicht folgte? Und noch ein Kummer liess ihn nicht los, unversehens stiess er eines Abends just auf diesen Punkt. Über einen andern urteilte sein Hausphilosoph, er habe sich mit seinen Schriften Feinde schaffen wollen, habe die Laster, die er aufgedeckt habe, nämlich aus seinem Innern hervorgezogen und letztlich, indem er die Dekadenz angegriffen habe, nur seinen eigenen Zustand beschrieben. Kurz, er habe sich an den Attackierten für das gerächt, was er selbst gewesen sei.


Ja, da war sie wieder, die Hürde, an der er jedesmal scheiterte. Die so hoch war und wie vor einen Abgrund gelegt, dass er sie aus Furcht, keinen sicheren Tritt mehr zu finden, garnicht zu überwinden versuchte. Wie sollten solche Argumente sich in guten Treuen gegen einen Einzelnen richten und nicht gegen alle Welt? Hatte sein Philosoph, selber keineswegs sparsam mit radikalster Kritik an Gesellschaft und Kultur, ja der gesamten Zivilisation, nicht am Ende alles auch bloss aus sich selber herausgezogen und am Beispiel der Menschheit nur über sich selbst gerichtet? Weshalb gestand er es hier nicht ein und legte es einzig dem andern zur Last? Wenn es aber unmöglich wäre, Kritik zu äussern, ohne wie ein antipoder Narziss sich selbst zu verfallen, so diente es der schieren Blendung, den Umstand zu verdecken, und also war alles nur Lug und Betrug. Jeder Massstab zerbräche an der Spiegelung und Rückspiegelung des befangenen Ichs und verlöre sich im Wahne einer schrecklichen Illusion, der alles und jeder unweigerlich aufsitzen musste. Und gerade die Klügsten, welche die Sache durchschaut hätten, müssten verstummen, weil über die eigene Nasenspitze hinaus garnichts mehr gesagt werden könnte. Und wer davon wusste und aber so tat, als wüsste er’s nicht, betrieb ein doppeltes Spiel und im Grunde nichts anderes als die reinste Demagogie.


Und also kam’s, dass er den Philosophen für einmal schalt und ihn einer unlauteren Polemik zieh. Aber die Fragen, die wie aus der Pandorabüchse daraus entwichen, legte er wohlweislich zurück und hütete sich, tiefer darin zu schürfen.

22 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

So steht die Sache

Eine junge Deutsche entschuldigt sich bei einem jungen Israeli dafür, was das deutsche Volk dem jüdischen angetan habe. Der Israeli...

Notizen 7

Karrieremachen ist die Entsolidarisierung mit jenen, die zurückbleiben. Die Lebenszeit ist zu knapp, um sie mit Erwerbsarbeit zu...

Kurz und bündig

Parlamentsdebatte Was redet vorne, ist Silber. Was hinten schweigt, ist das Gold.     Demoskopie Die Umfrage ist die Prognose und erfüllt...

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
bottom of page