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AutorenbildCaspar Reimer

Davonrennen

Seit Jahrzehnten und immer wieder träumte er, er hätte die Schule nicht abgeschlossen. Er blieb dem Unterricht fern, der Stapel an Ordnern und Büchern, die er hätte büffeln müssen, türmte sich immer höher in den Himmel, der Stundenplan war ihm – irgendwie – abhanden gekommen und eine Möglichkeit, das Sekretariat der Schule zu kontaktieren, einen Lehrer anzurufen oder gar mit dem Fahrrad das Schulhaus aufzusuchen, um die Kurve zu kriegen und einen ordentlichen Weg weiterzugehen, gab es nicht. Monate, Jahre zogen ins Land und jene Kollegen, die mit ihm einst die Schulbank gedrückt hatten, waren schon längst über alle Berge. Er fragte sich, ob es möglich wäre, sich in eine Klasse einzuschmuggeln, den Abschluss nachzuholen, es doch irgendwie in den wohligen Schoss der Gemeinschaft zu schaffen, wobei sich ein Gefühl des Makels, den er nicht mehr loswerden würde, an seine Seele krallte. Zum Glück wachte er in diesen Momenten wieder auf, um sich Gewahr zu werden, dass er damals die Schule zwar fluchtartig verlassen, aber sehr wohl abgeschlossen hatte.


Sein Leben glich einer ständigen Aufholjagd. Ein fortwährendes Davonrennen. Das Gefühl, es nicht zu schaffen, mehr als andere leisten müssen, um das Gleiche zu erreichen, war ihm stets auf den Fersen. Dabei verfolgte er keine Strategie, was sich als fatal erwies, weil das Hamsterrad zwar schneller drehte und der Kontostand in bisher ungeahnte Höhen schnellte, sich jedoch leise und unmerklich eine gewisse Raffgier einstellte, denn mehr macht bekanntlich Lust auf mehr, und er konnte nicht anders, als immer weiter und schneller diesen Weg zu gehen, das Loch zu stopfen, das ihn seit seiner Jugend begleitete. Dabei war es ihm nicht möglich, Nein zu sagen, Aufträge oder Anfragen von Kunden abzulehnen, und er realisierte nicht, dass der Lohn, der ihm durch sein umtriebiges Engagement beschieden war, längst für eine Person mit seinem Lebensstandard hätte reichen müssen. Also legte er wie ein Irrer Hand an, verplante Wochentage kreuz und quer, generierte Einnahmen bis an den Rand der Erschöpfung und liess das Geld danach irgendwohin versickern. Die Kontrolle hatte er längst verloren.

Er wusste, dass er je länger desto mehr Geld ausgab, er weniger hätte arbeiten können, wenn er seine Ausgaben reduziert hätte, doch die Hetze hatte ganz und gar von ihm Besitz ergriffen, er verlor den Blick fürs Wesentliche – etwa dafür, dass er konsequent und in allen Bereichen immer und reflexartig das teuerste Produkt kaufte, die Kellner im Restaurant mit völlig überrissenem Trinkgeld peinlich berührte oder, wenn er stockbesoffen im besten Hotel der Stadt übernachtete, dem Portier statt einfach ein Trinkgeld das gesamte Portemonnaie samt Bank- und Kreditkarten aushändigte. Natürlich gab es Momente, die meistens nach einem Saufgelage ins vernebelte Licht des Bewusstseins traten, in denen er von seinem eigenen Verhalten überrascht war und gerade in diesen Stunden der Gewissensbisse trat der alte Makel wieder hämisch ins Scheinwerferlicht, um ihn zu verspotten. Und weil er für sein Verhalten Strafe verdient hatte, musste er jetzt noch strenger Hand anlegen. Jeder einzelne Franken sollte hart verdient werden. Ruhepausen würde es für ihn keine geben!

Er war in einem Kreislauf gefangen, aus dem er nicht zu entkommen schien. Bis er eines Tages beim Überqueren einer Strasse den Lastwagen übersah, der sich ihm von links in zügigem Tempo näherte und ihn mit voller Kraft erfasste. Er verstarb noch an der Unfallstelle. Kurz bevor sein Bewusstsein die Welt verliess, überkam ihn die Einsicht, wie sehr er sich von der Angst hatte treiben lassen. Das wollte er im nächsten Leben anders machen. Ganz anders.

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