top of page
Daniel Costantino

Das Wunder von Bukarest

Aktualisiert: 15. Juli 2021

Ein Fussballspiel und seine Folgen


> Solche Grossereignisse bringen die Gemeinschaft näher, es lässt sich eine gemeinsame Identität bilden. Fast Jeder und Jede in der Schweiz empfindet Stolz. <


Die Soziologin Katja Rost, online zitiert im „20minuten“ vom 30. Juni.


Einer Mannschaft, die den Weltmeister schlägt, sei gegönnt, dass sie es noch weit bringe; einer Gemeinschaft aber, die von Grossereignissen nähergebracht wird, ohne zu wissen wohin, sei Vorsicht vor Halluzinationen empfohlen. Manch lockende Oase in der Wüste erweist sich beim Nahen als Fata Morgana, und die ausgedörrte Karawane muss mit hängenden Köpfen weiterziehen. Wie sich eine gemeinsame Identität bilden lässt, wird im Bastelbuch für Soziologen stehen, vielleicht ergänzt mit ein paar Illustrationen über die traditionsreiche helvetische Identität der hängenden Köpfe seit Marignano, mustergültig belegbar am Fussball: Zweimal an grossen Turnieren drei Elfmeter hintereinander zu verschiessen, ist noch nie einer Mannschaft ausser der Schweiz gelungen. Die stolze Soziologin Rost, kurz nach der glorreichen Schlacht zu Bukarest zitiert, hatte freilich ihr St. Petersburg noch nicht erlebt, als sich ihr die Keimzellen einer gemeinsamen Identität manifestierten. Ein typisch schweizerisches Eigentor und die drei kläglich verschossenen Elfmeter beim Kampf gegen die übermächtige Spanische Armada sollen sie bei ihrer tapferen Identitätsbildnerei nicht beirren. Sie wird aber wie fast jeder und jede Geduld brauchen und gut daran tun, sich vorderhand einen anderen gemeinsamen Stolz zu suchen. Meine italienische Putzfrau hat ihn schon gefunden.


Verfolgt man die Chronologie der Ereignisse und Erzeugnisse, muss man vermuten, dass ohne den Schmiss, den ein anonymer Tattoostecher von weisswoher und ein aus Basel nach Rom zugeflogener Coiffeur in die Sache brachten, der braven Nati in Bukarest eine historische Leistung versagt und ihrem mürrischen Trainer, in der nationalen Meisterschaft mit den Young Boys immer wieder historisch knapp und sogar mit geflügelten Worten gescheitert, ein Eintrag ins Geschichtsbuch abermals verwehrt gewesen wäre. Seit an Roger Federers Rekorden für die Ewigkeit nun leider auch schon der Zahn der Zeit nagt, hat man für solche Einträge gewöhnlich etwas biedere Ereignisse, etwa im Rahmen eines Abkommens mit der Europäischen Union oder halt einen Platzregen beim Sackhüpfen auf einer Kuhwiese heranziehen müssen.


Petkovics Mannen haben in Bukarest das politische Wunder vollbracht, nicht wenigen vaterlandslosen Gesellen, die sich durch ganze revolutionäre Lebensabschnitte links, frei und gut dabei gefühlt hatten, eine patriotische Seele einzuhauchen, die sie auch anderntags nicht einmal vor sich selber zu verstecken brauchten und die ihnen am Match der Schweiz gegen Frankreich auf dem tiefroten Grund ihrer agitproperen Brust erwuchs, mit einem Ruck durch die marxistische Verkrustung sich Bahn brach und vor der alles entscheidenden Torhüterparade als Schlachtruf, ganz der verhagelten Jahreszeit gemäss, ins Freie stiess: „Sommer, Sommer!“. Einer Verbrüderung unter Antikapitalisten und Reaktionären, mit Bierschaum vorm Mund, stand auf dem Nachhauseweg nichts mehr im Weg, und keine sieben Aufrechten hätten seliger ins Bett sinken können als diese Neopatrioten von der Bewegung 28. Juni, die freilich schon am 2. Juli mit der bitteren Niederlage von St. Petersburg ihr abruptes Ende fand. Ehrenvoll, aber doch durch Eigentor, Platzverweis, die verschossenen Penalties und den wegen Reklamierens gesperrten Captain linkisch und unglücklich wie so oft in der Vergangenheit sind Helvetias kickende Söhne untergegangen, und was seit dem traurigen Tag einen richtigen Linken mit diesen überbezahlten Auslandsöldnern, diesen unverschämten Lamborghinifahrern des Raubtierkapitalismus einzig noch verbindet: dass er eine genierliche, verstaubte Landeshymne nicht mitsingen muss.


31 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Der wahre Poet. Ein Mosaik.

Wenn er dichtet, will er nicht denken, wo käm er da hin. Es ist ja schon alles gedacht und millionenmal gesagt, da wär ihm sein Leben zu...

Spuren im Sand

Spuren im Sand Vom Online-Verstand und seinen Verwehungen   Die Sache mit dem Hund > Monika sucht Rat: Der Hund ihrer Kollegin im Büro...

Lettern vom Tag

Google News: Die Verfassung Amerikas, das mit den Böllerschüssen seines Wahlkampfs so recht auf sich selber schiesst, und Scharen von...

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
bottom of page