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Das Problem mit dem Leser

«Man sagt, der Journalist müsse den Leser da abholen, wo er steht. Ich phantasiere also über den Alltag der Leserschaft, die da irgendwo steht und darauf wartet, dass ich sie abhole. Obwohl ich mich geschmeichelt fühle, ja wer mag es nicht, gebraucht zu werden, tut sich mir ein Abgrund voller Ungereimtheiten auf. Ich möchte nebenbei fragen, ob es nicht vielmehr so ist, dass die Leute sitzen, wenn sie die Zeitung lesen, man also den Leser da abholen soll, wo er sitzt, keineswegs dort, wo er steht. Meine Irritation aber geht gewiss tiefer, ist mir zwar klar, dass ich den Leser, ob er nun steht oder sitzt, irgendwo abholen soll, doch scheint es mir vermessen, ja unmöglich, meinen zu wissen, wo der Leser gerade, mit der Zeitung in der Hand zum Abholen bereit, steht oder sitzt. Zuhause? Auf dem Arbeitsamt? Irgendwo am Strassenrand? Oder still und dumm im Walde? Und nicht nur das Wo, also die Frage nach der Örtlichkeit, ist ein Problem, sondern auch das Wann: Wie kann ich wissen, um welche Zeit dieser Leser da beginnt, meinen Artikel zu lesen? Vielleicht ist er arbeitslos, schläft in den Tag hinein. Oder malocht nachts in der Fabrik. Jedenfalls: Damit ich ihm überhaupt auf die Sprünge helfen kann, ist es schliesslich zwingend, ihn wenn nicht gleich von Anfang an, wenigstens am Schluss des ersten Satzes abzufangen und abzuholen, um ihm beim Lesen zu helfen, Wort für Wort zu erklären, wie was zu verstehen ist und selbstverständlich auch, was er dabei zu denken hat. Komme ich zu spät, steht oder sitzt der Leser am richtigen Ort wie bestellt und nicht abgeholt, ohne meine Expertise, verirrt sich in Irrtümern und Halbwahrheiten, verzweifelt ohne zu wissen, wohin es jetzt weitergeht. Und damit sind wir doch schon beim nächsten Problem: Vorausgesetzt, ich hole den Leser ab, wie er da am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt steht, sitzt oder, wer weiss, vielleicht sogar liegt, stellt sich die Frage, wohin ich ihn bei aller Welt jetzt bringen soll? Gewiss könnte ich den Artikel einfach am Ort vorlesen, ihm auf die Fragen die richtigen Antworten geben, doch scheint mir das irgendwie… billig. Schliesslich ist man doch ehrgeizig und will ein guter Journalist sein. Zudem impliziert Abholen, dass ich den Leser hole, um mit ihm irgendwo hinzugehen, ja, wie mit einem Hund, den man Gassi führt. Wenigstens müsste ich ihn um der Leserbindung willen auf einen Kaffee oder ein Bier einladen und ja… nett zu ihm sein. Doch bei vierzigtausend Lesern wöchentlich würden meine Spesen ins Unermessliche steigen und, so ganz nebenbei, meine Nerven aufs Äusserste strapaziert. Kurz gesagt: Diese Geschichte mit dem Abholen ist ein Witz, ein Wohlfühlfurz, das Hirngespinst eines Schreibtischtäters oder sogar einer Schreibtischtäterin. Ich für meinen Teil verweigere mich diesem Kuschelkurs mit dem Leser. Wer’s nicht versteht, schaut halt in die Röhre. Das ist nicht mein Problem.»

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